DFB-Hierarchie geht flöten Doktor Nagelsmann, in den OP bitte! Doktor Nagelsmann, bitte!
26.08.2024, 06:17 Uhr
Julian Nagelsmann muss im DFB-Team erneut umbauen.
(Foto: picture alliance/dpa)
Die deutsche Nationalmannschaft hat sich bei der Heim-EM von den Schrecken der vergangenen Turniere erholt. Doch statt eines stabilen Weges steht der nächste Umbruch bevor. Der fällt größer aus, als Bundestrainer Julian Nagelsmann erwartet haben dürfte.
Doktor Nagelsmann, in den OP bitte! Doktor Nagelsmann, bitte! Die Nationalmannschaft, gerade erst wieder stabilisierter Patient, braucht erneut einen Eingriff. Mit Toni Kroos (angekündigt), Thomas Müller (erwartet), İlkay Gündoğan (überraschend) und Manuel Neuer (ebenfalls überraschend) bricht ein stabilisierendes Korsett ab sofort weg. Im ausgehenden Sommer 2024 ist aber dennoch keine Not-Operation nötig. Nicht wie am Ende des Jahres 2023, als Nagelsmann alles zuvor Versuchte über den Haufen warf und mit neuen Methoden reüssierte.
Wobei, so neu waren die Methoden gar nicht. Der alte Meister Toni Kroos etwa war bestens erprobtes Mitglied der Nationalmannschaft, ehe er sich nach dem WM-Fiasko 2022 in Katar zurückgezogen hatte. Den Spielmacher von Real Madrid pflanzte der Bundestrainer zurück ins Zentrum, machte ihn zum Herzen des Teams. Drumherum ordnete er vieles neu an. Etwa Gündoğan in seiner besten Rolle als offensiver Spielgestalter. Und so weiter, und so weiter. Nun aber braucht der Patient abermals Unterstützung, um keinen bösen Rückfall zu erleiden.
Die harmloseste Operation findet im Tor statt. Mit Manuel Neuer macht nun ein Manuel Neuer Platz, der doch eigentlich und überall bis in alle Ewigkeiten spielen wollte. So dachte man es, vor allem der Boulevard, der sogar bis zuletzt. Dann aber kam der Blitzeinschlag: Neuer macht Schluss im DFB-Team, sofort! Das Ende einer großen Ära, eines großen Torwarts, der das Spiel des Schlussmanns am 30. Juni 2014 neu erfunden hatte. Im äußerst wackeligen WM-Duell mit Algerien (2:1 nach Verlängerung) räumte er als Torwart-Abwehrspieler-Hybrid alles auf zuvor nie gesehen Weise aus dem Weg, was seine fahrigen Vorderleute ihm so durchließen. Und das war nicht wenig. Aber mit diesem "Schweinespiel" ebnete sich Deutschland den Weg zum Titel und Neuer den Weg zur neuen Spezies des Torwart-Liberos.
Wer ersetzt den Typen Thomas Müller?
Mit Marc-André ter Stegen steht nun endgültig ein Mann bereit, der nach eigenem Empfinden schon viel zu lange bereitsteht, um Deutschland als Nummer eins erfolgreich durch Turniere zu führen. Sorgen muss man sich wirklich nicht machen. Zumal Manu, der Libero - immer noch ein Top-Mann, keine Frage - nicht mehr das alles fressende Torwart-Monster der vergangenen Zeiten war. Spannender ist eher die Lage dahinter. Wer wird Nummer zwei? Bleiben die Routiniers Oliver Baumann, Kevin Trapp und Bernd Leno in der Pole hinter der Pole? Oder rückt Alexander Nübel auf, der ja irgendwann auch mal die Nummer eins werden könnte/sollte? Zumal die Nachwuchs-Lage hinter dem Stuttgarter Keeper, der dem FC Bayern gehört, ja eher mau aussieht.
Sportlich ist auch das Thomas-Müller-Loch keine nennenswerte DFB-Baustelle mehr. In der Offensive glänzt eine Riege von Talenten wie die Auslage beim Juwelier: Da sind Jamal Musiala und Florian Wirtz, die bei der EM einen Spitznamen verpasst bekamen, der wie südafrikanische Tröten klang. Da ist aber auch Maximilian Beier, dessen feines Raumgefühl einmal Müller'sche Dimensionen annehmen könnte und der beim BVB weiter reifen soll. Angetrieben vom neuen Zehner Julian Brandt, der ja auch unbedingt zurückwill in die Nationalmannschaft. Und der immer noch nicht alte Kai Havertz kann offensiv ebenfalls überall helfen, auch wenn er zuletzt den ersten Stürmer gab.
Aber, zurück zu Thomas Müller, es gibt eine vielleicht wichtigere Komponente als seine Klasse am Ball, die es für den Bundestrainer und die Nationalmannschaft zu kompensieren gilt: Wer schlüpft in die Rolle des emotionalen Leaders? Joshua Kimmich, der könnte es machen. Oder Antonio Rüdiger. Oder Niclas Füllkrug, der allerdings muss sich erstmal in der Premier League beweisen. Ein neues Radio Müller lässt sich nicht so einfach erwerben.
Besonders schwierig wird's im Zentrum
Der ganz große Eingriff muss an der sensibelsten Stelle des DFB-Körpers vorgenommen worden: in der Mitte. Dort, wo Herz und Seele zusammenfinden. Dort, wo Kroos wieder eingepflanzt worden war und direkt den Pulsschlag bestimmte. Wo Gündoğan nach vorne verschoben worden war und damit in seiner Manchester-City-Rolle seine besten Länderspiele machte. Dort, wo selbst Nagelsmann vor seiner Not-OP verzweifelt nach der richtigen Behandlungsmethode gesucht hatte. Wie zuvor Hansi Flick und auch der späte Joachim Löw.
Die ewige Frage, ob Deutschland auch mit dem durch Pep Guardiola durchgeadelten Weltklassespieler erfolgreich sein kann, wurde auf den letzten Metern des gemeinsamen Wegs deutlich beantwortet: Ja, es geht, sogar ganz hervorragend. Dritter Mann auf der Brücke war Robert Andrich. Er ist noch da. Aber in welche Rolle? Das wird die große Frage sein. Die "Süddeutsche Zeitung" sah ihn vor allem Stammplatz befähigt, weil er Kroos für dessen Abschlussaufgabe den Rücken freihielt. Nun wird im Maschinenraum neu geschraubt. Ob Andrich das passende Zahnrad bleibt?
Wie könnte das neue Zentrum aussehen? Womöglich rückt Wirtz auf die Gündoğan-Position. Er spielt sie anders, aber von der Zehn heraus am besten. Möglich auch, dass Musiala ins Zentrum rückt, er ist mit seinem Tempo auf dem Flügel aber besser aufgehoben als der Leverkusener Spielmacher. Aber wer sorgt für die Absicherung? Schlägt jetzt endlich die (kurze) Zeit des 33 Jahre alten Pascal Groß, der sich jahrelang in der Premier League für große Aufgaben empfohlen hat und diese nun vorrangig als Chefstabilisator beim BVB ausführen soll.
Oder geht es das ewige Hin-und-her-Pflanzen von Joshua Kimmich weiter, der beim FC Bayern unter dem neuen Trainer Vincent Kompany von rechts hinten wieder in die zentrale Mittelfeldrolle gerückt wird. An der Seite der heiß ersehnten "Holding Six" Joao Palhinha? Was da aber wiederum zulasten des höchst talentierten Aleksandar Pavlović gehen könnte, den Nagelsmann hoch schätzt und der schon bei der EM dabei gewesen wäre, hätte er nicht aus gesundheitlichen Problemen absagen müssen.
Kommt die VfB-Stuttgart-Achse?
Ohne Stammplatz beim Rekordmeister wird es für Pavlovic aber auch nichts mit einer prominenten Rolle im DFB-Team, das von nun an voll auf die WM 2026 in Mexiko, Kanada und den USA ausgerichtet wird. Ein anderes, mitschwingendes Problem: Wer würde denn im DFB-Team hinten rechts agieren, sollte Kimmich tatsächlich wieder den Marsch ins Mittelfeld antreten (müssen)? Oder bleibt aus Mangel an Top-Alternative alles wie es ist - entgegen der gelebten Praxis beim Stamm-Arbeitgeber?
Ein anderer Mann, der im Zentrum hoch gehandelt wird, ist Stuttgarts Angelo Stiller. Unter Trainer Sebastian Hoeneß, der ihn schon beim FC Bayern II und bei der TSG Hoffenheim schliff, hat sich der 23-Jährige zu einer Schlüsselfigur beim Vizemeister entwickelt. Wie wichtig er geworden ist, hat unter anderem der Supercup gerade erst offengelegt. Als Stiller das Feld verließ, verloren die Stuttgarter trotz des Führungstreffers unmittelbar nach seiner Auswechselung mehr und mehr die Kontrolle - und schließlich den ersten Titel der Saison. Was für Stiller sprechen könnte: Mit Chris Führich, Deniz Undav und Maxi Mittelstädt könnte er mittelfristig eine VfB-Achse bilden. Wenn die Stuttgarter unter Trainer Sebastian Hoeneß ihren erfolgreichen Weg fortsetzen.
Dem Bundestrainer wird es bei seinen nächsten Eingriffen nicht zwingend um die langfristige Perspektive gehen - der Vertrag des 37-Jährigen endet, Stand heute, nach der WM 2026. Und auf dieses Turnier hat der Trainer alles ausgerichtet. "Wir wollen Weltmeister werden", ist der eindrücklichste Satz, den der Coach nach dem bitteren EM-Knockout gegen Spanien im Viertelfinale gesagt hatte. Die Optionen sind schwindelerregend. Nagelsmann ist erneut mit seiner allwissenden Klarheit gefragt. Herr Doktor, in den OP bitte! Doktor Nagelsmann, bitte!
Quelle: ntv.de