
Aus der Kurve ins Präsidium: Kay Bernstein.
(Foto: IMAGO/Matthias Koch)
Die Aufmerksamkeit ist Hertha BSC sicher: Der neue Präsident ist ein Ex-Ultra, Kay Bernstein sorgt für ein Novum in der Fußball-Bundesliga. Was eine knallharte Absage an die bisherige Vereinsarbeit ist, wird viel Arbeit für den 41-Jährigen. Neben der Beziehung zu den Fans warten viele drängende Aufgaben.
Es ist gerade einmal zwei Monate her, da herrschte Funkstille bei Hertha BSC. Fans und Mannschaft waren entzweit, nachdem einige Ultras nach der demütigenden Pleite gegen den 1. FC Union Berlin die Spieler zum Ausziehen ihrer Trikots genötigt hatten. Sie seien es nicht würdig, den Verein zu repräsentieren. Seitdem gab es die Aussöhnung, haben die Profis den Verbleib in der Fußball-Bundesliga geschafft - mit der Unterstützung lautstarker Fans - und nun ist einer der neue Anführer des Vereins, der früher selbst in der Kurve stand.
Präsident Kay Bernstein wurde gewählt auf der Mitgliederversammlung am Sonntag, 1670 Stimmen entfielen auf den 41-Jährigen. 1994 war er laut eigener Aussage zum ersten Mal bei einem Spiel der Hertha, bezeichnet sich selbst als "Kind der Kurve", ist seit 2005 Vereinsmitglied, hat zuvor die Ultragruppierung "Harlekins Berlin" mitbegründet und war Vorsänger in der Ostkurve. Seinen Platz hat er schon länger getauscht, der Eigentümer einer Kommunikationsagentur sitzt mittlerweile auf der Haupttribüne. Dort, wo er auch künftig Spiele seines Klubs verfolgen wird. Dann aber nicht mehr als Privatperson und Fan, sondern als Präsident.
Seine Wahl ist ein Paradigmenwechsel. Bei Hertha BSC und im deutschen Fußball allgemein. Sein langjähriger Vorgänger Werner Gegenbauer (2006 bis 2022) regierte von oben herab, immer schnoddrig und nonchalant, wenig ließ er sich sagen, mit Investor Lars Windhorst kam er gar nicht zurecht, pflegte einen Konfrontationskurs auch via Medien. Der Unternehmer im Facility- und Gebäude-Management, Anbieter von Sicherheitsdiensten und Hallenbetreiber wuchs im gediegenen Bezirk Wilmersdorf im ehemaligen West-Berlin auf, ist in der Berliner Wirtschaft gut vernetzt, gar verklüngelt, wie es kritisch heißt. Beliebt im Klub aber war er nicht, bei seiner Wiederwahl 2020 erhielt er nur 54 Prozent der Stimmen - als einziger Kandidat. Der Abwahl durch die Fans kam er im Mai mit seinem Rücktritt zuvor, nachdem ein Mitglied einen Abwahlantrag gestellt hatte: "Wir sind zur Lachnummer in Deutschland geworden. Aus einem dauerhaften Europacup-Teilnehmer ist ein Abstiegskandidat geworden. Der Verein hat eine katastrophale Außendarstellung und etliche Skandale geliefert", hatte Sebastian Stargard begründet.
Gegenbauers Nachfolger dagegen stammt aus dem Ostteil der Stadt, aus Marzahn, ist jung und kein Klüngler mit Politik und Wirtschaft, ein Startup-Unternehmer. Bernstein kennt die Belange der Fans, betont die Wichtigkeit der Gemeinschaft für den Klub, will einen. Er ist noch näher dran und drin als etwa Peter Fischer bei Eintracht Frankfurt, der schon vor dem Europapokal-Titel inmitten der Fans feiert.
"Bedeutet eine schwere Bürde"
Dem "Weiter so" haben die 3000 Abstimmenden eine Absage erteilt. Die Wahl ist eine schallende Ohrfeige für die jahrelange Abkopplung der Vereinsführung von der Basis. Einzig verbliebener Gegner Bernsteins war Frank Steffel. CDU-Politiker, ein Mann, den der "Spiegel" im Jahr 2001 mit der wenig charmanten Überschrift "Berlins unerschütterlicher Loser" bedachte, bisheriger Präsident des Handball-Bundesligisten Füchse Berlin. Der 56-Jährige hatte seine Kandidatur erst vor zwei Wochen überraschend bekannt gegeben, anschließend klang vieles nach politischem Manöver, hatte er doch mehrere andere Kandidaten hinter sich vereint - und auch der umstrittene Investor Lars Windhorst hätte lieber mit ihm gearbeitet.
Bernsteins Wahl bringt Hertha BSC viel Aufmerksamkeit. Statt mitleidiger ist es diesmal neugierige, respektvolle Aufmerksamkeit. Die vielen negativen Schlagzeilen aufgrund des Dauer-Chaos sind erstmal Vergangenheit, die desolate Mannschaft, die vielen Trainerwechsel, das Investoren-Hickhack, die Rücktritte in der Chefetage sind passé. Mit Sandro Schwarz kommt ein neuer Coach, der die Wünsche der Fans zu teilen scheint, mit Bernstein ein Präsident, auf den die aktive Fanszene in ganz Deutschland schaut.
"Viele Jahre Wegbegleiter, jetzt Präsident eines großen Traditionsvereins. Alles Gute und viel Erfolg", twitterte Jan-Henrik Gruszecki, der sich als Ultra und Fan-Sprecher von Borussia Dortmund einen Namen machte und mittlerweile Leiter der Stabsstelle Strategie und Kultur beim BVB ist. "Aus unserer Sicht ist das eine erfreuliche, eine großartige Sache. Das war ein guter Tag für die Fans", sagte Sig Zelt von "Pro Fans" dem SID. Und Helen Breit von "Unsere Kurve" ist sicher, dass der "öffentliche Druck durch Fans" wahrgenommen wird. "Man kann ihre Stimme nicht mehr so kleinreden, wie es vor der Pandemie der Fall war." Bernstein sagte nach seiner Wahl: "Es bedeutet eine schwere Bürde, der Erste zu sein, der diesen Weg geht und aus der Ultra-Generation hervorspringt. Aber für mich steht das Herthaner oben drüber. Erst dann ist man der Fan, der Ultra, der Kuttenträger, der Haupttribünensitzer. Aber das Herthaner ist viel wichtiger."
Seine Eventagentur hat den Slogan "#einfachmachen", so will Bernstein auch seinen neuen Job angehen. Für den zieht er sich aus seiner Agentur zurück, übergibt seiner Frau, die bislang Prokuristin ist, die Geschäftsführung, konzentriert sich voll auf Hertha BSC. Am Mittwoch steht die erste Präsidiumssitzung an, in dem sein neuer Vize Fabian Drescher sitzt, der Erfahrung mitbringt, schon dem alten Präsidium angehörte. Bernstein hat ein erstes Ziel: "Die Hauptaufgabe wird sein, aus dem Präsidium einen eingeschworenen Haufen mit Teamspirit zu machen, der Hertha vorlebt."
"Alte Dame liegt auf Intensivstation"
Es geht für den neuen Boss des Vereins nicht nur um die Fanbindung. Er muss sich in der Vereinspolitik beweisen, muss eine Basis mit dem Geschäftsführer Sport, Fredi Bobic, finden, der bislang mit einem ganz anderen Typ Präsident zusammenarbeitete. Muss sich mit Windhorst, Investor und Mehrheitseigener der GmbH und Co. KGaA, in die die Profi-Abteilung des Klubs ausgelagert ist, arrangieren. Dessen Verhältnis vor allem zu Gegenbauer war konfrontativ, ein Gegen- statt ein Miteinander. Muss die drängende Stadionfrage, bei der es nach jahrelanger Blockade nun konstruktive Signale von der Stadt gibt, voranbringen. Muss entschieden, ob es in der Geschäftsführung einen neuen CEO geben soll. Muss auswählen, wer auf Finanzchef Ingo Schiller folgt, der im Oktober freiwillig den Rückzug antritt. Ganz schön viel für den Novizen, auf den nicht nur ein Verein, sondern ganz Deutschland schaut.
Er ist sich dessen bewusst. Es geht um nicht weniger, als die Vereinsarbeit umzukrempeln. "Das Präsidium muss nahbarer werden. Lasst uns mit den Leuten reden, darauf wird es ankommen." Und er scheut sich nicht. "Unsere alte Dame liegt auf der Intensivstation", sagte Bernstein kurz nach seiner Wahl. "Wir können sie jetzt von innen heilen und ganzheitlich gesund machen. Jeder kann und muss mithelfen, damit wir unsere blau-weiße Seele zurückgewinnen." Auf der Mitgliederversammlung sprang der Funke jedenfalls schonmal über. Die aktive Fanszene, die sich in den vorderen Reihen platziert hatte, sprang nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses auf und skandierte spontan "HaHoHe, Hertha BSC" und "Hertha BSC, heißt unser Verein, Hertha BSC, wird es immer sein". So viel Begeisterung hat eine Präsidiumswahl lange nicht ausgelöst.
Quelle: ntv.de