Viele Rätsel noch offen"Doktor" Nagelsmann kann nur Symptome behandeln

Sieben Monate vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft schlingert die DFB-Elf bedrohlich. Bundestrainer Julian Nagelsmann will in den letzten beiden Partien des Jahres die Qualifikation festzurren. Fürs nächste Jahr muss er sich aber etwas einfallen lassen.
Hoffentlich hat sich Julian Nagelsmann die Gefühlslage aus dem vergangenen November fachgemäß konserviert und eingetuppert. Wie herrlich war da doch die DFB-Welt? Zum Abschluss des erfolgreichen EM-Jahres reiste die Fußball-Nationalelf erst ins sonnige, aber kalte Freiburg, um Bosnien-Herzegowina mit einem 7:0-Kantersieg in der Nations League auseinanderzunehmen. Es folgte wenige Tage später das 1:1-Remis im noch kälteren ungarischen Budapest.
Aber: Temperaturen, Ergebnisse und alles andere waren damals völlig egal. Denn der deutsche Fußballhimmel war frei von dunklen Wolken und im DFB-Gepäck reiste etwas mit, was heute schmerzlich vermisst wird: die Leichtigkeit. In Budapest spielte eine einmalige C-Elf, im Keller der Puskas-Arena scherzte Jamal Musiala noch über Florian Wirtz und dessen "dumme" Gelbe Karte. Alles unwichtig. Ein paar Tage zuvor hatte man ja auch sieben Tore geschossen.
Und heute? Nun ja, da ist von Leichtigkeit nichts mehr zu spüren. Im Gegenteil: Der Irgendwie-Schon-Krisen-Bundestrainer Julian Nagelsmann saß zu Beginn der Woche in der Krisen-Stadt Wolfsburg - und wich direkt mal vier Schritte zurück. Es ging vorerst nur um das nächste Ziel: die Qualifikation für die WM 2026. Mehr nicht. Klar, dass die Ausnahmekönner Musiala und Kai Havertz monatelang fehlen, dafür kann der Bundestrainer nichts. Dass sich sämtliche deutsche Mittelstürmer zeitgleich verletzen oder im Formtief stecken? Dass jetzt auch noch Kapitän Joshua Kimmich verletzt fehlt? Auch da ist der Nationalcoach eher machtlos.
Es ist wie verhext
Trotz dieser Gemengelage ist es für alle Beteiligten aber überraschend: Die WM-Qualifikationsgruppe aus Luxemburg, Nordirland und der Slowakei gestaltet sich aus DFB-Sicht als erschreckend mühsam. Mit Leichtigkeit hat das gerade wenig zu tun. Und vor allem passt es nicht zu Nagelsmanns Versprechungen: Am 5. Juli 2024, nach dem EM-Aus, gab er im Adrenalinrausch das neue Ziel aus: Weltmeister werden. Auch nach dem verkorksten Finalturnier der Nations League hielt er daran fest. Die WM-Quali? Sie sollte das Selbstverständnis füttern. Nagelsmann wollte die Spiele nicht nur gewinnen, er wollte sie beherrschen. Er wollte keine Zweifel lassen.
Der Traum platzte jedoch schon nach 20 Minuten in Bratislava. Nichts mit Dominanz, stattdessen eine 0:2-Niederlage beim Auftakt in der Slowakei. Ein völliges Zusammenbrechen von dem, was man sich nach der EM mühsam wieder aufgebaut hat. Die Spiele danach wurden erfolgreicher, aber nicht zwangsläufig ansehnlicher. Nagelsmann hat zuletzt die Defensive priorisiert, darunter litt aber die Offensive. Man kam zwar ohne Gegentor durch den Oktober, aber fünf der acht Quali-Tore fielen nach Standardaktionen.
Es bleibt wie verhext: Etwas mehr als 200 Tage vor dem Turnierbeginn ist das Team weiterhin ein großes Rätsel. Wer könnte es in den WM-Kader schaffen? Wer könnte ein Leuchtturmspieler sein? Oder wird es die gar nicht geben? Reist man mit Dreier- oder Viererkette an? Mit welcher Doppelsechs? Wie schafft man die Balance aus Offensive und Defensive? Und überhaupt: Mit welchem Torwart eigentlich? Als Vorbilder nannte Nagelsmann in den vergangenen Monaten immer die Teams von Spanien und Argentinien, die hatten diese Fragen schon Monate vor dem Anpfiff beantwortet. Derweil erhofft sich die fiebrige deutsche Fußballöffentlichkeit die Heilung von diesen Sorgen.
Die Kommunikation wird deutlich rauer
"Doktor" Nagelsmann kann derzeit aber nur die Symptome behandeln - und wirkt selbst bisweilen fahrig. Die Slowakei-Niederlage erklärte er mit fehlender Emotionalität der Protagonisten. Dabei ist er derjenige, der für die Einstellung der Mannschaft zuständig ist. Es ist nun mal Teil seines Jobs, die DFB-Elf zu führen. Das ist ihm in Bratislava weder taktisch noch emotional gelungen. In den Nations-League-Spielen in der ersten Jahreshälfte hat er das eigene Spiel immer wieder durch eifriges Wechseln gebrochen. Das ist zumindest verschwunden.
Und dennoch: Der Ton wird deutlich rauer. "Keinen Raum für Ausrutscher", kündigte Nagelsmann an. Er spürte in den vergangenen Wochen, was es bedeutet, wenn die DFB-Elf nicht erfolgreich ist. Wenn die Leichtigkeit verflogen ist. Wie unangenehm es ist, Bundestrainer in einem Fußballland zu sein, in dem es Millionen Menschen meinen, es besser zu wissen. Das konstante Mosern, das Jammern, die Ungeduld: All das nervt ihn verständlicherweise. Er soll Antworten finden, darf aber nicht nach ihnen suchen.
Dabei ist er experimentierfreudiger als seine Vorgänger. Insgesamt 54 Spieler hat Nagelsmann in seiner kurzen, zweijährigen Ära bislang schon eingesetzt. Der Umgang mit ihnen wirkt von außen manchmal erratisch. Manche blieben. Leon Goretzka ist nach seiner EM-Ausbootung zurück. Dass er auch im WM-Kader auftaucht, ist nicht sicher. Viel hängt von seinen Einsatzzeiten beim FC Bayern ab. In der Bundesliga spielt er zwar, in der Champions League jedoch eher weniger.
Andere gingen. Der Stuttgarter Angelo Stiller sollte eigentlich noch der Kern der WM-Doppelsechs sein, fehlt diesmal aber im Aufgebot. Und Maximilian Mittelstädt? Ist gar ohne richtige Erklärung verschwunden. Der Frankfurter Nnamdi Collins wurde komplett verheizt, kam nach seinem Albtraum-Debüt in der Slowakei nicht mehr zurück. Der jetzt verletzte Kapitän Kimmich wird fröhlich hin- und hergeschoben.
Und Leroy Sané? War erst weg und ist jetzt wieder da. Sané muss sich öffentlich überraschend offen kritisieren und drohen lassen, sodass auch Rekordnationalspieler Lothar Matthäus irritiert ist. Als "coole Socke" könne Sané damit umgehen, erklärte Nagelsmann das Ganze. Dass nun plötzlich Supertalent Said El Mala im DFB-Kader auftaucht, ist zwar ein Bruch mit Nagelsmanns Prinzipien, junge Spieler nicht zu früh zu hypen, aber auch der gewaltigen Not geschuldet, die auf den DFB-Flügeln herrscht. Sonst wäre ja auch Sané nicht wieder dabei. Dass der deutsche Talentpool nicht so groß ist, wie eigentlich gedacht, auch das ist ein Problem, auf das Nagelsmann noch Antworten sucht.
Bei allem Alarmismus: Es ist erst noch November. Am Abend (20.45 Uhr/RTL und ntv.de-Liveticker) soll in Luxemburg die Qualifikation schon näher kommen. Bis zum Turnier, Starterlaubnis vorausgesetzt, ist noch ein wenig Zeit. Nur Spiele bleiben dem Bundestrainer keine mehr - wenn das DFB-Team nicht die Schleife über die Playoffs drehen muss. Vor der Heim-EM kam der entscheidende Umbruch auch erst zwischen den Jahren. Im März bei der Partie gegen Frankreich in Lyon. Auch so ein Moment, den Nagelsmann hoffentlich eingetuppert hat. Und hoffentlich entwickelt er für das nächste Jahr eine neue Erzählung, sonst wird es dann mit besonderen Momenten schwierig.