Klage an Kollegen trägt Früchte Tragischer Modeste therapiert sich zum BVB-Helden
10.10.2022, 12:20 Uhr (aktualisiert)
Enthemmter Matchwinner: Anthony Modeste.
(Foto: IMAGO/ANP)
Der FC Bayern führt im Bundesliga-Topspiel gegen Borussia Dortmund lange mit 2:0 und hat das Duell eigentlich im Griff. Doch dann kommt Anthony Modeste. Der heftig kritisierte Franzose legt erst ein Tor auf, vergibt dann auf bittere Weise und wird doch noch zum Helden.
Für Anthony Modeste war der Abend eigentlich schon gelaufen. Der Stürmer von Borussia Dortmund, der auf den letzten Transfermetern vom 1. FC Köln losgeeist worden war, um den an Hodenkrebs erkrankten Sebastián Haller zu ersetzen, war in der 83. Minute des Bundesliga-Topspiels gegen den FC Bayern zum tragischen Helden geworden. Er hatte für seine spät wieder erwachte Mannschaft das 2:2 auf dem Fuß. Aber aus kurzer Distanz, nach einer perfekten Hereingabe des starken Karim Adeyemi, traf er den Ball nicht richtig und konnte den am Boden sitzenden Manuel Neuer nicht mehr überwinden. Ein Wahnsinn für den Stürmer, ein Schock fürs Stadion.
Das war gerade so richtig auf Temperatur, als der 34-Jährige so bitter versemmelte. Er verstolperte (oder so) und half dem FC Bayern damit für den Moment wieder richtig in den Sattel. Denn im Dortmunder Schlussgalopp war die Mannschaft von Trainer Julian Nagelsmann aus der souveränen Position tüchtig verrutscht. Doch der wilde Ritt endete nicht. Ganz im Gegenteil. Der BVB peitschte sich voran. Angeführt von dem völlig entfesselten Joker Adeyemi. Wie besessen rannte der Nationalspieler die rechte Seite herunter, narrte seinen Gegenspieler Josip Stanišić. Und einmal auch Kingsley Coman, der foulte und Gelb-Rot sah. Das Stadion tobte, der BVB wurde wild.
Und er belohnte sich. Nach 94 Minuten wackelte Jude Bellingham Leroy Sané aus. Seine Flanke verpuffte zwar, aber aus diesem Angriff erwuchs das 2:2 (das Endergebnis). Denn die Bayern klärten nicht gut, Adeyemi lupfte den Ball aus dem Halbfeld hoch in den Strafraum, dort behauptete ihn Nico Schlotterbeck per Grätsche an der Torauslinie und legte ihn dann butterweich rüber auf den langen Pfosten. Dort lauerte ... Modeste. Und köpfte gnadenlos ein. Eiskalt. Was für ein Tor. Was für eine Erlösung. Die "Süd" eskalierte in diesem Moment, der die kollektive Verzweiflung der schwarzgelben Familie in kollektive Euphorie blitztransformierte, der eine herrliche Liebeserklärung an diesen faszinierenden Sport war. Und der Stürmer? Der rannte und rannte. Er rannte sich Frust und Glück in einem kurzen Sprint aus dem mächtigen Körper. Eine Dortmunder Heldengeschichte war geschrieben. Die Fans feierten den Franzosen, dem seine euphorischen Kinder nach dem Schlusspfiff in die Arme gesprungen waren, mit "Modeste"-Sprechchören.
Moukoko empfiehlt sich für die WM
Es ist eine klassische Ausgerechnet-Story. Eine, die den Fußball so liebenswert, so einzigartig macht. Denn der Franzose war als Hoffnungsträger gekommen und zum Fremdkörper geworden. Er hatte seinen Stammplatz an den Jugendlichen Youssoufa Moukoko verloren. Und der 17-Jährige lieferte reichlich Argumente, warum sich die neue schwarzgelbe Sturm-Hierarchie manifestieren sollte. Im Derby gegen den FC Schalke 04 wurde er zum gefeierten Erlöser. Auch damals explodierte das Stadion so gigantisch wie an diesem Samstagabend, in dieser 95. Minute, als Modeste sein kleines Dortmunder Märchen schrieb. Als er Grüße an seine Kritiker sendete. Der alte Mann, er kann es noch. Wenn er im Strafraum richtig versorgt wird. Und genau das hatte er bei seinen Kollegen zum Thema gemacht. Wie er bei Sky verriet. "Ich werde kein Geheimnis darum machen: Ich habe mich unter der Woche ein bisschen beschwert. Wir flanken nicht genug."
Gesagt, geändert. Aber zunächst noch nicht mit Erfolg. "Jetzt war ich vielleicht überrascht – aber ich sollte nicht überrascht sein", gestand Modeste zu seinem Fauxpas. "Am Ende habe ich an mich geglaubt, wer soll das sonst machen?" Die Fans hatten ihn nicht hängengelassen. Nicht verhöhnt. Sie hatten vielleicht gespürt, dass in dieser Partie noch etwas gehen kann. Über Adeyemi. Über Flanken. Über Modeste. Moukoko konnte nicht mehr helfen, angeschlagen saß er draußen. Er, der Dosenöffner zur Aufholjagd. Auf ganz feines Zuspiel, ausgerechnet von Modeste, hatte er den Ball an Manuel Neuer vorbeigedroschen. Es war sein drittes Saisontor. Zusammen mit dem Bremer Niclas Füllkrug bietet er sich dem Bundestrainer immer mehr als WM-Alternative im Problemressort Sturmzentrum an. Und bei der Borussia? Wird da eine Doppelspitze womöglich zum Thema?
Der BVB war an diesem Abend nicht die bessere Mannschaft. Aber darum ging es auch nicht vorrangig. Nach dem herben Patzer beim 1. FC Köln zuletzt war das ewige Mentalitätsthema mit einem lauten Hurra aus dem Giftschrank gesprungen. Es sollte schnell wieder eingefangen werden. Und so arbeitete sich der BVB hart und körperlich in dieses Duell hinein. Die Gelben Karten gab es zwar für die Bayern, aber die Dortmunder krachten ebenfalls in die Zweikämpfe. Für einen sah Jude Bellingham Gelb. Er hatte den Ball gespielt, war fassungslos und fortan in seinem Spiel auch deutlich gehemmter als gewohnt. Der Borussia tat das nicht gut. Was ihr aber guttat: Dass Schiedsrichter Deniz Aytekin den Engländer kurz vor der Pause weiter auf dem Platz ließ. Bellingham hatte Alphonso Davies mit dem Fuß im Gesicht getroffen. Unabsichtlich, aber wuchtig. Der Außenverteidiger des FC Bayern musste mit Verdacht auf Gehirnerschütterung ins Krankenhaus.
Nagelsmann wettert wegen Tritt gegen Davies' Kopf
Trainer Nagelsmann war alles andere als glücklich. "Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir vor vier Monaten eine Schulung. Wenn du einen Spieler mit einem hohen Fuß im Gesicht triffst, ist es eine glatte Rote Karte. Ich weiß nicht, ob das andere Regeln waren. Da gibt es nicht viel zu diskutieren. Ob Absicht oder nicht, er tritt ihm volle Kanne ins Gesicht. Das ist nicht Gelb, das ist eine Rote Karte. Gelb ist es aber auf alle Fälle", schimpfte er bei Sky. Eine Schlüsselszene war es sicherlich. Bayern ersetzte Davies mit Stanišić. Und der war überfordert.
Derweil kämpfte Edin Terzic mit seinen Gefühlen. Der BVB-Trainer hatte nach dem 2:2 feuchte Augen. Offenbar beschäftigte ihn etwas. Etwas, das mehr, das wichtiger ist als Fußball. "Ich hab mich gefreut, das hat man bei dem Tor gemerkt. Es war für mich persönlich keine einfache Woche, ich war sehr emotional. Ich möchte bitte nicht darüber reden. Da kamen ein paar Gefühle hoch", sagte er bei Sky und lenkte den Fokus auf das Spiel. "Ich freue mich, dass wir den Leuten zeigen konnten, dass wir das Spiel unbedingt gewinnen wollten. Es ist besonders nicht leicht, wenn man 0:2 hinten liegt. Wir haben es uns am Ende verdient, diesen Punkt mitzunehmen, da wir alles nach vorne geworfen haben. Ich würde mich über eine Mentalitätsfrage freuen." In Dortmund begann an diesem Abend alles Gute mit "M" - Mentalität, Moukoko und Modeste.
(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 09. Oktober 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de