Ohne die "Endspiel-Sau" geht's nicht Löws alternativloses Schweinsteiger-Risiko
31.05.2016, 17:29 Uhr
Joachim Löw braucht die Qualitäten eines Bastian Schweinsteiger. Dafür muss er sogar das medizinische Risiko eingehen, dass er nicht spielen kann.
(Foto: dpa)
Bastian Schweinsteiger fährt mit zur Fußball-Europameisterschaft nach Frankreich. Das hat der Bundestrainer entschieden. Joachim Löw handelt damit einmal mehr gegen seine eigenen Prinzipien – weil er nicht anders kann.
Die Erinnerung ist ein hohes Gut des Menschen. Und doch ist sie Segen und Fluch zugleich. Sie kann helfen, in schlechten Zeiten den Optimismus und den Mut zu bewahren. Sie kann aber ebenso zur Gefahr werden, wenn das Vergangene, das Vergängliche als ein unerschütterliches Ideal konserviert wird. An kaum einem Beispiel lässt sich diese Diskrepanz zwischen dem Guten und dem Schlechten besser belegen als an Bastian Schweinsteiger.
Knapp zwei Jahre ist es her, dass der Nationalspieler das ganze Land beeindruckt hat. Als unverwüstlicher Gladiator, der gehalten, getreten, geschlagen wurde, führte er die Fußball-Großmacht Deutschland im Juli 2014 im legendären Maracanã zu einem 1:0 im WM-Finale über Argentinien mit ihrem später so todtraurigen Weltfußballer Lionel Messi. Nach 24 titelhungrigen Jahren durfte das DFB-Team wieder den Pokal, der ein bisschen aussieht wie eine schlecht eingewickelte Vase, in die Höhe heben. Und Schweinsteiger war der Boss. Unbestritten.
Mehr Patient, als Pöhler
Das ist, wie gesagt, knapp 23 Monate her. In nun nicht mehr ganz zwei Wochen stellt sich die Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw dem nächsten Titelprojekt, bei der Europameisterschaft in Frankreich. Und als Weltmeister, so erwarten es viele, wäre so ein kontinentaler Titel doch eine schöne Bestätigung der neuen deutschen Fußball-Dominanz. Und wieder ist Schweinsteiger dabei. So zumindest will es Löw, der bei der Benennung seines endgültigen Kaders lieber die offensiven Julian Brandt und Karim Bellarabi, Rechtsverteidiger Sebastian Rudy und den erneut verletzten Marco Reus mit gut gemeinten Worten wegschickte, als seinen Kapitän.
Schweinsteiger fährt also mit - und jeder Sympathisant der Nationalmannschaft diskutiert nun heftig über die Sinnhaftigkeit dieser Nominierung. Warum? Nun, weil der 31 Jahre alte Mittelfeldspieler von Manchester United sich in diesem Jahr mehr in Arztpraxen und auf Physiotherapiebänken bewegt hat als auf dem Platz. Dort hat er sich ziemlich genau 110 Minuten lang austoben dürfen, hat die "Süddeutsche Zeit" errechnet. Kurzum: Schweinsteiger ist mehr Patient denn kraftstrotzender Fußballer. Löw ist das egal. Er nimmt ihn mit und handelt damit gegen sein Absolute-Fitness-Prinzip (anders als bei Marco Reus) bei der Nominierung - mal wieder.

2014 war Philipp Lahm der Anführer - außer im Finale, da übernahm Bastian Schweinsteiger.
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Da ist sie plötzlich, die gefährliche Seite der Erinnerung: 2014 haben wir ihn doch auch hingekriegt, so dürfte der Gedanke des Bundestrainers gelautet haben, als er im Geiste die EM-Tickets verteilte. Und ja, es stimmt: In Brasilien haben sie den 114-fachen Nationalspieler gerade noch so hingebogen. Doch bis auf seine phänomenale Leistung im Endspiel war Schweinsteiger einer unter vielen im DFB-Team. Der Anführer war der mittlerweile zurückgetretene Philipp Lahm.
Löw handelt wieder gegen seine Prinzipen
Im Trainingslager in Ascona, wo der Bundestrainer seine Auswahl derzeit auf Turnier-Temperatur bringen will, spricht sich der Protagonist Mut zu. Er sei bis jetzt "völlig im Plan", was die EM angeht. Er habe in den letzten drei Wochen viel trainieren können, bis zu dreimal am Tag. Auch die letzte Tomographie bei DFB-Doktor Müller-Wohlfarth sei unauffällig gewesen. Klingt doch prima. Sieht in der Realität aber so aus: Am vergangenen Wochenende, als sich die Mannschaft durch Augsburg plitsch-platschte, trainiert der Kapitän erstmals wieder mit dem Ball.
Doch was als enormer Fortschritt verkauft wird, ist nur ein Beleg für die nicht vorhandene Verfassung, ein großes Turnier spielen zu können. Physisch, das ist klar, kann Schweinsteiger der Mannschaft in Frankreich in bestenfalls sieben Spielen bis zum Titel kein Anführer sein. Das ist medizinisch ausgeschlossen. Das weiß auch der Bundestrainer. Trotzdem geht er das Risiko ein und nimmt Schweinsteiger mit. Löw muss das machen, wenn er auch nur eine kleine Chance auf Einsätze seines Kapitäns sieht.
Seiner Auswahl, so talentiert und sportlich hochklassig besetzt sie auch ist, fehlt eine Qualität, die nach den Rücktritten der Weltmeister Philipp Lahm und Miroslav Klose nur noch Bastian Schweinsteiger mitbringt. Der "Red Devil" ist eine, Verzeihung, absolute "Endspiel-Sau": Meisterschaften, Pokalsiege, Triumphe im Europapokal und Weltmeister. Er kann kämpfen und führen. Er sorgt für Ruhe und Mut. Auf und abseits des Platzes. Der Bundestrainer braucht den Gladiator - mindestens im Endspiel. Das Risiko ist es wert.
Quelle: ntv.de