Schleichender München-Zerfall Nächster Bayern-Kollaps offenbart trostlose Realität
09.04.2024, 06:37 Uhr
Lange Gesichter: Der FC Bayern erlebte in Heidenheim die nächste böse Niederlage.
(Foto: IMAGO/Sven Simon)
Bricht eine Mannschaft so unerklärlich weg wie der FC Bayern gegen Heidenheim abermals, läuft etwas grundlegend falsch. Bei den Münchnern reißt der Faden auf Ansage. Vor dem wichtigsten Spiel des Jahres gegen den FC Arsenal verdichten sich die Zeichen, dass die Zeit des ehemaligen Super-Teams vorbei ist.
Oft fiel es früh. Das wichtige Tor zum 1:0. Fast immer war danach das Spiel gegessen. Für den Gegner, versteht sich. Der FC Bayern legte nach seinen Führungstreffern in verlässlicher und bedrohlicher Regelmäßigkeit gerne nach. "München ist wie ein Zahnarztbesuch", hatte Werder Bremens Sebastian Prödl 2015 gesagt. "Muss jeder mal hin. Kann ziemlich weh tun." Die Sätze, die als Fußball-Spruch des damaligen Jahres geehrt wurden, sie gelten heute nicht mehr. Ein Spiel gegen die Bayern wird für die Gegner immer mehr zur Kuschel-Party. Selbst nach Rückstand. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt: Die Desaster in dieser Saison kommen nicht von ungefähr - und beruhen auf fünf Punkten.
Es war ein harter Samstagnachmittag für den Deutschen Meister. Dabei lief zunächst doch alles nach Plan. Allerdings ging es gegen eine Mannschaft, die nie aufsteckte. Nach 36 Minuten führte der FC Bayern mit 3:0 gegen den 1. FC Kaiserslautern, nach 57 Minuten gar mit 4:1. An diesem 20. Oktober 1973 verloren die Münchner am Ende gegen die "Roten Teufel" von Trainer Erich Ribbeck mit 4:7 in vielleicht der peinlichsten aller Bayern-Pleiten. Bis zu dieser Saison.
Saarbrücken, Bochum und nun Heidenheim. Drei fest eingeplante Siege, drei Desaster. Gegen Mannschaften aus der unteren Tabellenhälfte, gegen einen Aufsteiger und eine Drittligamannschaft. Jeweils führte der FC Bayern in den Partien. Und kollabierte anschließend auf rätselhafte Art und Weise. Bei der Heim-Niederlage gegen Bremen, der ersten gegen Grün-Weiß seit 2008, schossen die ehemaligen Münchner Zahnärzte überhaupt kein Tor. Bereits in der vergangenen Saison hatte der Rekordmeister 29-mal in Front gelegen, aber noch achtmal den Sieg verspielt (fünf Remis, drei Pleiten).
Am Abend (21 Uhr/Amazon Prime und im Liveticker auf ntv.de) trifft der FC Bayern im Viertelfinale der Champions League auf den Tabellenführer der Premier League, den FC Arsenal. Vor allem die Mentalität, die Defensive und auch Thomas Tuchel müssen sich steigern. Eine Pleite gegen die Gunners wäre zwar nicht peinlich, Kai Havertz und Co. spielen derzeit mit beeindruckender Stärke auf, eine Katastrophe könnte sie dennoch bedeuten: Bei einem Aus würde der Rekordmeister zum ersten Mal seit mehr als einem Jahrzehnt ohne Titel dastehen.
Die Bayern-Fehler im Überblick
Saarbrücken: Beim Stand von 1:0 spielt Kim kurz vor der Pausen Frans Krätzig auf der Sechs mit einem zu risikoreichen Pass an, der damals 20-Jährige verliert die Kugel, Min-jae Kim grätscht anschließend ins Leere und der Drittligist stellt auf 1:1. Beim Siegtreffer der Saarbrücker in der Nachspielzeit der 2. Pokal-Runde versagt die gesamte Münchner Mannschaft in der Rückwärtsbewegung - und das nach einem Einwurf des Gegners an der Mittellinie.
Bremen: Nachdem Justin Njinmah die Abwehrreihe ein ums andere Mal vor Probleme stellt, kassieren die Bayern in der 59. Minute das entscheidende Tor: Das Mittelfeld erzeugt keinen Druck auf den Ballführenden, dann lässt sich Alphonso Davies auf der linken Abwehrseite von Mitchell Weiser viel zu einfach abkochen. Anschließend schafft es die Offensive von Tuchel nicht, gegen die sonst so bröcklige Werder-Defensive den Ausgleich zu erzielen.
Bochum: Beim 1:1 durch Takuma Asano unterläuft der gesamten zentralen Achse eine Fehlerkette: Jamal Musiala geht in ein unnötiges Dribbling und verliert den Ball, Leon Goretzka läuft ins Leere, Joshua Kimmich beweist mangelhafte Körperlichkeit im Zweikampf und Kim steht falsch und kommt im Sprint nicht mehr an den Torschützen heran. Nur sechs Minuten später trifft Keven Schlotterbeck nach einer Ecke per Kopf, weil Manuel Neuer auf der Linie umherirrt und Matthijs de Ligt nicht richtig hochsteigt. Vor dem 3:1 per Elfmeter haut Dayot Upamecano seinem Gegenspieler den Ellenbogen ins Gesicht. Der Anschlusstreffer von Harry Kane ist kurz vor Schluss nur Makulatur.
Heidenheim: Auffällig: Auch gegen Heidenheim geschieht der Kollaps innerhalb kürzester Zeit. Beim 1:2-Anschlusstreffer sind es ein simpler Abschlag und ein Kopfball (Kim verliert das Duell), die Kevin Sessa zum Tor schicken, auch weil Upamecano aus seiner Verteidigungsposition einen Schritt zu weit herausrückt. Das 2:2 fällt nicht einmal 90 Sekunden später, weil Goretzka, Davies und Serge Gnabry im Mittelfeld gemeinsam zu wenig Druck auf Tim Kleindienst aufbauen und dieser nach seiner Spielverlagerung auf die linke Seite ungehindert über das halbe Feld in den Sechszehner sprinten darf. Jan-Niklas Beste darf unbedrängt flanken (Kimmich zieht sich zurück, Thomas Müller kommt zu spät) und in der Nähe des Elfmeterpunkts verschätzt sich Kim auf grobe Art und Weise. Beim Heidenheimer Siegtreffer lässt sich die linke Seite der Bayern mit einem einfachen Doppelpass aushebeln, dann reiht sich Fehler an Fehler: Goretzka geht viel zu zaghaft in den Zweikampf, Kim steht falsch, Upamecano kann das Zuspiel auf Kleindienst nicht verhindern und Kimmich läuft dem Torschützen zu spät hinterher.
Während Heidenheim zum ersten Aufsteiger in der Geschichte der Bundesliga wird, der die Bayern nach einem Zwei-Tore-Rückstand noch schlägt, offenbart das Münchner Debakel in Kombination mit den anderen Niederlagen der Saison fünf Schwachpunkte:
Bayern fehlt der Hunger
Moral, Einstellung, Wille, Hunger, Siegermentalität. Wie man es auch nennen will: Der FC Bayern hat in den vergangenen Monaten nicht genug davon. Verschenkt eine Fußball-Mannschaft immer öfter Führungen und Erfolge, bricht sie unerklärlich weg, gerade ein Über-Team wie der FC Bayern, läuft etwas falsch. Dass auf gute Halbzeiten immer wieder fahrige folgen, hat mit mehr zu tun als dem Personal. Die Münchner zeigen zwar punktuell, dass sie an sich immer noch groß aufspielen können (in Europa wie national), doch die Konstanz fehlt. Und die Motivation für Konstanz. Gegen Heidenheim ist es wohl eine simple Rechnung: Da ist die "lahme Ente" Tuchel, der Trainer wird seinen Job spätestens im Sommer abgeben, und ein Team, das sich bewusst ist, keine Chance mehr auf die Schale zu besitzen.
Doch es ist äußerst fragwürdig, wie das Heidenheim-Motivationsdesaster vor dem wichtigsten Spiel des Jahres beim FC Arsenal passieren kann. Wie auch schon viel früher in der Saison peinliche Pleiten mit desolaten Einbrüchen in ungewöhnlicher Regelmäßigkeit auftreten konnten. "Ich glaube, dass ein gewisser Sättigungsprozess bei den Spielern eingesetzt hat und das Selbstverständnis zur Eigenmotivation nicht mehr so da ist, wie das vielleicht in diesem so erfolgreichen Corona-Jahr 2020 der Fall war", gab Michael Ballack im "kicker" einen passenden Erklärungsversuch ab.
Auch der neue Sportvorstand Max Eberl wusste, was fehlt: "Ich habe großen Respekt vor Heidenheim, weil die gezeigt haben, wie Fußball funktioniert. Fußball ist ein ganz einfaches Spiel. Zwei Tore, ein Ball, Moral und Laufbereitschaft und einfach versuchen, alles auf den Platz zu bringen. Und das tun wir nicht." Und Tuchel nannte es nach dem 2:3 wie folgt: "Wir tun uns schwer, die Konzentration und das Level hochzuhalten. Sei es innerhalb von Wochen oder innerhalb von Spielen. Das ist leider der nächste Beweis dafür."
Tuchel immer ratloser
Der Trainer ist der Hauptverantwortliche einer Fußball-Mannschaft, wenn es um das wie und was auf dem Platz geht. Von Spiel zu Spiel wird klarer, dass Tuchel seinen Männern keinen Hunger mehr einimpfen kann. Dazu gab sich der Coach nach Pleiten der Bayern beinahe fatalistisch. Er wirkte teilweise so, als hätte er sich und seine Mannschaft schon aufgegeben. Und vor allem erklärte die Saison über immer aufs Neue, dass er einfach nicht wisse, was mit dem Team passiert sei. Wie ein erneuter Einbruch zu erklären sei. Diese Ratlosigkeit, ob nun gespielt oder nicht, ist ein fatales Zeichen für den Klub. Denn sie wirkt demoralisierend auf die Spieler.
Gegen Heidenheim verbockte der Coach dazu die Aufstellung. Nachdem sich jüngst das Innenverteidiger-Duo Matthijs de Ligt und Eric Dier festgespielt hatte, setzte er plötzlich auf Upamecano und Kim, die prompt patzten. Eine solche Fehlentscheidung vor dem wichtigsten Spiel des Jahres, die für weitere Unsicherheit sorgte, könnte den Bayern teuer zu stehen kommen. Dabei hatte Tuchel erst kürzlich erklärt, dass sich sein Team für die entscheidenden Wochen einspielen müsse, um sich Selbstvertrauen zu erarbeiten.
Bayern-Defensive immer schwächer
Natürlich sind die Spieler für die schlechten Halbzeiten und Pleiten ebenso verantwortlich. Dabei fällt vor allem auf, dass defensiv in allen Mannschaftsteilen zu laissez-faire gearbeitet wird. Und dass die Innenverteidigung (der 2021 zu Real Madrid abgeschobene David Alaba, er selbst wollte nach 13 Jahren im Klub gar nicht unbedingt weg, wird schmerzlich vermisst; Jérôme Boateng, der 2021 aus München floh, war lange eine Stütze, wurde aber vor allem von Uli Hoeneß nicht so behandelt) mittlerweile nicht mal mehr national ganz oben steht, weil die Konstanz fehlt. Genauso wie eine eingespielte defensive Achse. Auch, da Torhüter Manuel Neuer arg verletzungsanfällig geworden ist und Alphonso Davies' Leistung längst nicht mehr die aus dem Jahr des Champions-League-Triumphes ist.
Der schleichende Zerfall eines Super-Teams, das über ein Jahrzehnt die Bundesliga dominierte und 2020 noch das Triple holte, lässt sich anhand der Defensive gut aufzeigen: In den vergangenen zehn kassierte bis zum 28. Spieltag nie so viele Gegentore wie in diesem Jahr (2021 waren es ebenfalls 36). Heute sind es sechs Treffer mehr als 2023, sieben mehr als 2022, acht mehr als 2020 und 2019, 16 mehr als 2018, 21 mehr als 2017, 23 mehr als 2016 und 2015 und 20 mehr als 2014. Gleich vier Mannschaften haben sich in dieser Bundesliga-Spielzeit weniger Tore gefangen als die Münchner.
Not an Führungsspielern
Natürlich spielt bei den Gegentoren auch das defensive Mittelfeld eine große Rolle. Während die Bayern den Abgang von Robert Lewandowski ein Jahr später mit dem Transfer von Harry Kane wettmachten, verpassten es die Klub-Bosse, einen weiteren Sechser von Format zu holen. Obwohl Tuchel sich seine "Holding Six" so sehnlichst wünschte. Vorbei sind die Zeiten, da Goretzka durchs Mittelfeld pflügte und Kimmich die Fäden zog. Heute ist der erst 19-jährige Aleksandar Pavlovic derjenige, der dem Team mehr Hunger und Feuer geben kann. Doch ein Führungsspieler kann er noch nicht sein - während Neuer zu oft fehlt, Kimmich mit einem Wechsel in Verbindung gebracht wird und Thomas Müller zum Altmeister-Teilzeitunterhalter degradiert wurde. Neuer, Müller und Kimmich haben dennoch (zu) viel Macht in Klub und Mannschaft, was die Lage für neue Leader-Aspiranten nicht einfach macht.
Mangelhafte Kaderplanung
Stichwort Führungsspieler: Zu oft hat der FC Bayern in jüngerer Vergangenheit auf Zugänge gesetzt, die sich noch in der Entwicklung befinden. Ein Xabi Alonso, ein Thiago, ein Arjen Robben oder gar ein Aggressive-Leader wie Mark van Bommel waren nicht dabei. Weltklasse haben die Münchner auch jetzt noch im Kader, doch die nötigen Persönlichkeiten, um von ganz oben zu dominieren, augenscheinlich nicht mehr. Auch in der eigenen Ausbildung gab es Patzer: Ein gewisser Angelo Stiller wurde 2001 in München geboren, kam 2010 in den Verein, wurde 2020 abgegeben und ist heute beim VfB Stuttgart genau der Sechser, nach dem Tuchel gesucht hat.
Auch einige Trainer und Sportdirektoren kamen und gingen, dieser wollte jene Spieler, der nächste wieder andere. Deshalb hat nach dem Eberl-Transfer die Suche nach einem neuen Übungsleiter oberste Priorität und wird nicht überstürzt. Ein gutes Zeichen in trostlosen Zeiten. Und Bayern-Präsident Herbert Hainer erklärte in der "Bild", dass der Vorstand um den Vorsitzenden Jan-Christian Dreesen und Eberl neu aufgestellt wird, damit in Zukunft "mit schlankeren Strukturen noch effizienter und schneller agieren zu können".
Quelle: ntv.de