Fußball

Party nach blankem Entsetzen Superstürmer Guirassy entfesselt das wirre Monster BVB

Knuddelalarm im alten Westfalenstadion: Serhou Guirassy führt den rätselhaften BVB zum Heimsieg gegen Bochum.

Knuddelalarm im alten Westfalenstadion: Serhou Guirassy führt den rätselhaften BVB zum Heimsieg gegen Bochum.

(Foto: IMAGO/osnapix)

Borussia Dortmund schaut nicht nur in den Abgrund, sondern hängt bereits mit einem Bein über dem drohenden Schlund. Doch dann kommt Superstürmer Serhou Guirassy richtig in Fahrt. Der BVB gewinnt das kleine Revierderby deutlich, aber auf kuriose Weise.

Als Myron Boadu in der 33. Minute auf die Südtribüne losrannte, herrschte blankes Entsetzen im Dortmunder Stadion. Mit einer 2:0-Führung im Beutel machte sich der Stürmer des VfL Bochum ganz alleine auf den Weg in Richtung Tor der Borussia, behütet von Keeper Gregor Kobel. Mit tüchtig Abstand hatte der Niederländer eine kleine Armada von verzweifelt hinterher sprintenden Schwarzgelben im Rücken. Diese Szene hatte etwas von einem 1920er-Film. Ein frecher Dieb rennt den peinlich übertölpelten Polizisten davon. Zum Schießen lustig. Doch am Ende der Szene lachte niemand. Boadu schoss den Ball hauchzart neben das Dortmunder Gehäuse. Der Stürmer warf die Beute weg, bevor der dicke Ertrag verbucht werden konnte. Die Bochumer waren fassungslos, die Borussen wussten nicht, wohin mit sich. Sie taumelten wie betäubt am Abgrund, aber fielen nicht.

Was wäre nur los gewesen in Dortmund, hätte der VfL-Angreifer etwas genauer gezielt. Das Stadion wäre wohl explodiert. Das nächste Debakel war nur einen Mini-My entfernt. Und die Schockwellen, die es ausgelöst hätte, wären noch gewaltiger gewesen als jene nach dem Desaster, das der BVB am vergangenen Sonntag beim VfB Stuttgart erlebt hatte (1:5). Denn die Schwaben können für sich in Anspruch nehmen, ein Spitzenteam zu sein. Die Bochumer nicht. Sie kämpfen schon jetzt wieder ums Überleben in der Fußball-Bundesliga. Gegen Holstein Kiel gab es zuletzt zuhause ein 2:2. Das war zwar der erste Punkt der Saison, aber verbunden mit der Frage, ob diese Mannschaft in dieser Bundesliga-Saison überhaupt ein Spiel gewinnen kann. Eine Erkenntnis des Abends: Wenn sie so spielt, dann ja. "Das kann auch schnell in die Hose gehen. Fällt das dritte Tor, dann haben wir ein Riesenproblem", sagte Borussia-Trainer Nuri Sahin am Ende eines aufwühlenden und mitreißenden kleinen Revierderbys, das sein Team tatsächlich mit 4:2 (1:2) an diesem nasskalten Freitagabend gewonnen hatte.

Borussia Dortmund - VfL Bochum 4:2 (1:2)

Tore: 0:1 Bero (16.), 0:2 De Wit (21.), 1:2 Guirassy (44.), 2:2 Can (62., Elfmeter), 3:2 Guirassy (75.), 4:2 Nmecha (81.)
Dortmund: Kobel - Couto (82. Süle), Anton, Schlotterbeck, Ryerson (74. Bensebaini) - Can, Groß (74. Nmecha) - Adeyemi, Brandt (74. Beier), Jamie Gittens (66. Duranville) - Guirassy. - Trainer: Şahin
Bochum: Drewes - Passlack, Oermann, Medic, Wittek - Losilla, Sissoko (82. Kwarteng), Bero (82. Balde), De Wit - Boadu (62. Broschinski), Hofmann (72. Miyoshi). - Trainer: Zeidler
Schiedsrichter: Felix Brych (München)
Gelbe Karten: Couto (2), Groß (3)
Zuschauer: 81.365 (ausverkauft)

Der BVB erspart sich durch diesen turbulent herbeigeführten Sieg zwei Debatten, die bei einem anderen Ausgang des Spiels, losgetreten worden wären: Zum einen haben die Dortmunder kein Mentalitätsproblem und zum anderen muss Sahin vorerst weniger Wind aushalten, als zwischenzeitlich zu befürchten war. Aber eine entspannte Arbeitswoche steht dem BVB auch nicht ins Haus, nicht nur wegen der Verpflichtungen gegen Celtic Glasgow in der Champions League und danach in Berlin bei Union. Die Schwarzgelben haben nach diesem turbulenten Abend erneut einiges aufzuarbeiten.

Ein Traum-Angriff und zack, Bochum führt

Aus dem Stuttgart-Spiel, so versicherte Sahin unter der Woche, habe man die richtigen Lehren gezogen. Welche genau das waren, blieb in der praktischen Umsetzung vorerst unklar. Der eher kleine Karim Adeyemi köpfte zwar nach wenigen Minuten aufs Tor und Julian Brandt ließ einen schönen Schuss folgen. Aber von einem donnernden Befreiungsschlag waren die Schwarzgelben weit entfernt. Der Ball lief hin und her, aber kreativen Input bekam er nicht. Dann stürmten urplötzlich die Bochumer los. Maximilian Wittek spielte auf Matus Bero, der direkt weiter auf Philipp Hofmann und der wieder zurück auf Bero. Das war Tiki-Taka in seiner schönsten Form, vollendet vom Slowaken mit einem Schuss voller Überzeugung. Der Bochumer Anhang war außer Rand und Band. Mindestens 8000 waren mitgereist, hatten für reichlich blauen Dunst nach dem Anpfiff gesorgt und feierten nun (16.).

Und es wurde aus ihrer Sicht noch viel besser. Boadu bedrängte Kobel robust, der von Nico Schlotterbeck nicht sauber angespielt worden war. Der Torwart ging ins Dribbling und verlor. Offensivspieler Dani de Wit, über dessen (viel) zu defensive Rolle in Bochum viel diskutiert worden war, stand perfekt und drückte den freien Ball ins leere Tor - 0:2 (21.), na hoppala! Sollte sich der schnörkellos aufspielende Krisenklub aus der Nachbarschaft tatsächlich hier in diesem schwer zu erobernden Tempel erheben? Sollte der Klub alle entflammten Debatten um Aufstellungen und Systeme im schwarzgelben Land lassen? Als Boadu losrannte, sah es tatsächlich so aus. "Stolz ist ein großer Begriff, aber mit vielen Teilen war ich sehr zufrieden", sagte der leidenschaftlich coachende Peter Zeidler später. "Wir haben das gebracht, was wir uns vorgenommen haben, mit Leidenschaft verteidigen, mutig nach vorne spielen und selbst Phasen im Ballbesitz haben."

Das Publikum pfiff vernehmbar laut. In die Wut über den wirren Auftritt ihrer Mannschaft mischte sich Panik. Es sollte doch alles besser werden in dieser Saison. Die Mannschaft gefestigter auftreten, besser balanciert. Mitreißend im Spiel nach vorne, aufmerksam im Spiel nach hinten. Der Edin-Terzic-Fußball, mit dem sie in der Stadt so fremdelten, sollte ganz schnell ausgetrieben werden. Ihr schwarzgelber Junge Nuri sollte ihren schwarzgelben Jungen Edin vergessen machen. Doch was die Menschen im Stadion sahen, war krampfhafter Rien-ne-va-plus-Fußball. Aber die Pfiffe hallten nicht nur Momente nach, sie weckten ihre Mannschaft auf. Voran ging Serhou Guirassy, der beim jungen Tim Oermann lange Zeit in bester Betreuung gewesen war. Der Superstürmer spielte Julian Brandt frei, der aus kurzer Distanz über das Tor schoss. Danach übernahm Guirassy den Abschluss selbst. Sein Schuss verfing sich in den Beinen des ganz starken Felix Passlack (43.), sein Kopfball landete im Tor (44.). Die Intensität der Gäste hatte kurz nachgelassen, die Strafe folgte auf dem Fuße, Pardon, per Kopfe.

Mit dem 2:2 ist (vorerst) alles vergessen

Dortmund war im Spiel. Das Monster, das diese Poweroffensive sein kann, war erweckt. Pascal Groß scheiterte an Torwart Patrick Drewes an erneut an einem Passlack-Bein. Der ehemalige Außenverteidiger, der beim BVB zum Profi geworden war und zum ersten Mal mit "fremdem" Trikot in seiner alten Heimat spielte, war überall. Leider aus Sicht der Bochumer auch an Guirassys Fuß. Es gab Elfmeter, Kapitän Emre Can verwandelte sicher (62.). Die Südtribüne tobte und die Fans sangen: "Nur der BVB, unser ganzes Leben, unser ganzer Stolz ..." Mit einem Mal war vergessen, was Phase war. Der Krampf, die Fehler, das drohende Debakel. Dass ihre Mannschaft noch immer ein Spitzenteam außer Dienst war, konnten sie verzeihen. Und es war ja noch nicht vorbei.

Guirassy war nun in voller Fahrt. Wie ein Sportwagen nachts auf der B1 beschleunigte er sich und den BVB. Adeyemi spielte einen vorzüglichen Pass und der Königstransfer des Sommers, der lange verletzt passen musste, machte das Ding locker weg, 3:2 (75.). "Serhou ist super. Es ist super, einen Spieler vorne zu haben, wo du weißt, du kannst ihn immer anspielen", schwärmte Can. "Er ist immer gut für ein Tor und Serhou wird uns hoffentlich noch einige Dinger vorne machen. Es ist ein guter Anfang."

"Keiner wusste genau, was am Anfang passiert"

Jetzt war endgültig all das zuvor nur schwer auszuhaltende Geschichte. Das blanke Entsetzen aus der 33. Minute war mit einem kräftigen Tritt in eine andere Zeitzone verbannt worden. Dass die Bochumer nach dem Ausgleich eigentlich gerade eine bessere Phase hatten und Moritz Broschinski die erneute Führung liegen ließ, ignorierte das bebende Stadion großzügig. Die Gäste waren nun nicht physisch platt, sondern auch mental. Die Sensation war so nah, nun aber die Hände leer. Und die Dortmunder rasten weiter hochtourig und lustvoll über den Rasen. Der eingewechselte Felix Nmecha schoss, aber der Ball ging vor allem ins Tor, weil der starke Keeper Drews ihn einfach durchflutschen ließ, 4:2 (81.) stand es. "Keiner hier im Stadion wusste genau, was am Anfang passiert. Wir liegen auf einmal 0:2 hinten", sagte Can bei Dazn. "Hier bei uns im Stadion, mit den Fans ist immer alles möglich, das haben wir heute wieder gezeigt. Aber das darf nicht erst nach einem 0:2 anfangen." Das Team habe "Charakter gezeigt", fand der Kapitän, auch noch keine unumstrittene Stammkraft in dieser Saison.

Und es hätte noch viel besser für die Dortmunder kommen können, aber Guirassy ließ noch einen liegen. Can selbst haute einmal an den Außenpfosten, Julien Duranville schoss knapp vorbei. Der junge Belgier war nach 66 Minuten für den erfolglos dribbelnden und Übersteiger im Sonderangebot produzierenden Jamie Gittens ins Spiel gekommen. Und er deutete an, dass der BVB da eine neue Superoption in seiner unfassbaren talentierten Offensive hat. Der Antritt des 18-Jährigen ist gigantisch, seine Ballbehandlung ein Genuss und sein Auge für den Nebenmann schon sehr gut ausgeprägt. Aber im Angriff klemmt's bei der Borussia eher weniger, auch wenn das Kreativspiel an diesem Freitagabend erneut ausbaufähig war. Es waren das absurde Tempo und die individuelle Überlegenheit, die das Derby zugunsten von Schwarzgelb entschieden.

Die Abwehr, die Abwehr ...

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Die Problemzone ist die fahrige Abwehr und nicht nur die bisweilen großzügig vernachlässigte Restverteidigung. Gegen das Bochumer Pressing gab es große Schwierigkeiten. Die Südtribüne raunte und hielt den Atem an, wenn Schlotterbeck und Co. in den Kurzpass gingen, um sich zu befreien. Das hatte bisweilen latent panische Züge. Torwart Kobel bekam erneut mehrfach Stress, blieb aber stabil. Wären da nicht die Bochumer auf dem Platz gestanden, sondern ein Spitzenteam, das hätte böse enden können. "Man kann hinten mit vier Mann in Überzahl sein, wenn du dann nicht zupackst, wenn du nicht attackierst und nicht durchbrichst, dann haben wir Probleme. Es ist dieser Prozess, den wir besprechen", sagte Sahin.

In diesem Prozess erkannte der Trainer aber bereits gegen Bochum große Fortschritte. Wie auch Torwart Kobel, der sich für die überragende Leistung des Teams bedankte, dass sein Bock zum 0:2 nicht zu fürchterlichen Tagen im Schatten des alten Westfalenstadions beitrug. Dass seine Mannschaft wie ein unvorsichtiger Trunkenbold am Abgrund tanzte, sah der Schweizer übrigens gar nicht sonderlich kritisch. Es komme halt vor, dass ein Gegner sich Torchancen erspielen würde. Das sei schließlich die Bundesliga, befand er. Trainer Sahin gefiel derweil vor allem die "Klarheit", die seine Spieler nach dem Rückstand zeigten. "Wir spielen weiter und versuchen es weiter." Das sei wichtig, um erfolgreich zu sein, wie der junge Coach mit Verweis auf Meister Bayer Leverkusen erklärte. Die Werkself hat genau das nämlich "letztes und auch dieses Jahr ausgezeichnet." Ein überraschend großer Vergleich an einem Abend, der so nah am Abgrund verlaufen war.

Quelle: ntv.de

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