Endzeitstimmung beim Stadtderby Union demütigt Hertha vor langem Winter
21.11.2021, 09:31 Uhr
Ausverkauft.
(Foto: imago images/Matthias Koch)
Ohne Probleme gelingt Union Berlin ein 2:0-Sieg im Stadtderby gegen Hertha BSC. Die Köpenicker dominieren ihren Gegner nach Belieben. Doch über dem Stadion an der Alten Försterei liegt eine Endzeitstimmung. Das ausverkaufte Spiel sorgt im Vorfeld für Unmut.
Ein paar Hertha-Fans ziehen eine riesige blauweiße Fahne schwenkend über die Straße an der Wuhlheide. Vor dem Stadion knubbeln sich die Zuschauer am Einlass. Dort werden sie kontrolliert. Geimpft oder genesen und im Idealfall noch getestet sollen sie sein. Viele von ihnen tragen keine Maske. Sie warten und kommen mühsam voran. Der Verein hat die Zahl der Ordner aufgestockt. Jeder einzelne Impfnachweis muss kontrolliert werden. Es gelten die 2G-Regeln. Irgendwann sind die Fans in der Alten Försterei, in der der Stadion-DJ gerade "Dirty Old Town" von den Pogues spielt.
Erstmals seit März 2020 darf in Berlin ein Fußballspiel unter Vollauslastung ausgetragen werden. Inmitten explodierender Corona-Zahlen, inmitten neuer Lockdowns in Sachsen und Bayern. Gedämpfte Atmosphäre auch in Köpenick. Zu ungewiss erscheint die Zukunft. Mal wieder. Zu groß die Sorge vor einem neuen Lockdown. Zu paradox die Situation. Wie so oft in diesen Tagen, an denen der Ausweg aus der Coronavirus-Pandemie immer mehr in der Ferne verschwimmt. In der täglich neue Schreckensmeldungen für die Unsicherheit der Gedanken sorgen, in der einem die, die Corona weiterhin für eine Verschwörung halten, ihre Nasen in den öffentlichen Verkehrsmitteln ins Gesicht halten und ihr feindseliger Blick Konfrontationen herbeiführen soll. Doch viele sind müde, erschöpft und der Kämpfe überdrüssig. Sie ergeben sich ihrem Schicksal.
Anfang ist kein Endpunkt
Corona, und nicht das Spiel an sich, hat im Vorfeld des Stadtderbys zwischen Union und Hertha für Schlagzeilen gesorgt. Darf ein Fußballspiel unter diesen Bedingungen überhaupt noch vor Fans ausgetragen werden? Welche Symbolwirkung und aber auch welche konkreten Langzeitfolgen werden von diesem Spiel ausgehen? Immer wieder erinnert Stadionsprecher Christian Arbeit an die Maskenpflicht außerhalb der Tribüne. Er bedankt sich für die Unterstützung der Fans, die sich jedoch selten daran halten. An den Getränkebuden, an denen kein Alkohol ausgeschenkt wird, an den Grills, überall stehen sie Schlange, unterhalten sich und kaum einer trägt Maske. Das war bereits im Vorfeld zu erwarten gewesen und gehört zu den Widersprüchen, die es an diesem späten Nachmittag in der Alten Försterei auszuhalten gilt.
Die Aufregung im Vorfeld war groß, auch weil der Profifußball in der Pandemie aus vielerlei Gründen kein besonders gutes Bild abgibt. Durch seine Exponiertheit wird er immer wieder auffällig, an ihm wird das große Ganze verhandelt. Er steht sinnbildlich für die Veranstaltungsindustrie, die durch die diversen Lockdowns und Einschränkungen mit großen finanziellen Verlusten zu kämpfen hat. Die er auffangen will. Dazu kommen prominente Impfskeptiker wie Joshua Kimmich bei den Bayern und natürlich auch die schwerwiegenden Vorwürfe gegen den ehemaligen Bremen-Trainer Markus Anfang, der einen gefälschten Impfpass genutzt haben soll. Der Fußball als Abbild der Gesellschaft, die seit langer Zeit aufgeregt durch die Pandemie schlittert und immer wieder ausrutscht.
Auch Union steht in der Kritik
Aber nicht nur die Absurditäten der Pandemie, sondern auch die manchmal zu forschen Forderungen, die Sonderrollen, die keine sind, weil sie sich immer an die politischen Vorgaben halten, sorgen für Unmut und Unverständnis. Immer wieder im Zentrum der Kritik: Union Berlin, die besonders forsch auftreten, die sich früh für die Rückkehr der Fans einsetzten, dann auf 3G und weniger Auslastung setzen und erst, als es nicht anders möglich ist, auf 2G umschwenken. Nicht alle verstehen das. Aus ihren eigenen Gründen, wie auch die Abwesenheit der Ultra-Gruppen beweist, die von 2G nichts halten. Wie bei einigen anderen Bundesliga-Klubs auch. Es ist kompliziert.
Auf dem Platz selbst wollte auch selten Derbystimmung aufkommen. Erst mit seinen Einwechslungen sorgte Dardai für etwas Emotionen. Dennis Jastrzembski zog den Unmut der Union-Fans auf sich, als er einen Ball in Richtung eines am Boden liegenden Gegners rollte. Doch die Rudelbildung in der 74. Minute und eine unmotivierte Rangelei von Davie Selke bleiben die Ausnahme. Denn an diesem Samstag muss man von einem Klassenunterschied sprechen. Dabei müssen die Gastgeber nicht einmal alles abrufen. Herthas Flanken segeln ohne große Gefahr in den Strafraum, meist in die Hände des dankbaren Union-Torhüters Andreas Luthe, der so zumindest zu ein wenig Beschäftigung kommt.
Eiserne Klasse
Dabei gibt der mitgereiste Anhang dem Hertha-Team bereits wenige Minuten vor dem Spiel einen klaren Auftrag. "Wir wollen Euch kämpfen sehen", rufen sie aus ihrem kleinen Block. Was da noch hoffnungsvoll klingt, wird in den kommenden 90 Minuten in Frust umschlagen. Sie werden ihren Gesang noch einige Male aus der Schublade holen. Es wird nichts nützen. Dabei mangelt es den sichtlich bemühten Herthanern nicht an Kampfgeist, sondern an Inspiration, Durchschlagskraft und einer Idee, was mit dem Ball überhaupt anzufangen ist. Ganz anders die Eisernen, bei den Rückkehrer Max Kruse die Fäden zieht, bei denen Genki Haraguchi keinen Zweikampf scheut und Grischa Prömel und Rani Khedira die bescheidenen Angriffsbemühungen des Gegners durch die Mitte nach außen lenken, um sie dort kläglich versanden zu lassen.
Zwar versucht Suat Serdar in den ersten 45 Minuten immer wieder Läufe in den Strafraum. Er will den Ball ins Tor tragen und bleibt letztendlich an einem Unioner hängen, bekommt nicht einmal die Möglichkeit, spektakulär zu fallen, um einen Elfmeter zu fordern. Zu sicher, zu abgeklärt agieren die Eisernen, die in den ersten 45 Minuten vornehmlich auf Fehler der Gäste aus dem Westend warten. So wie Marton Dardais Luftloch in der achten Minute, das der wieder einmal wunderbare Taiwo Awoniyi ohne größere Probleme ausnutzen konnte.
"In allen Belangen überlegen"
Später sorgt Herthas-Millionenstürmer Kryzstof Piatek mit einem vollkommen deplatzierten Querpass knapp 30 Meter vor dem eigenen Tor für eine Union-Ecke, die letztendlich bei Kapitän Trimmel landete und wenig später im Netz der Hertha. Nur einmal droht das Spiel zu kippen. Aber Peter Pekariks Treffer aus dem Nichts verweigert der VAR die Anerkennung, weil Piatek einige Momente vorher mit einer Kopflänge im Abseits steht. Ein Spiel unter VAR-Bedingungen ist immer auch wie ein Zieleinlauf auf der Galopprennbahn.

Pflichtschuldig sorgen die Hertha-Fans kurz vor Schluss für eine kurze Unterbrechung.
(Foto: picture alliance/dpa)
"Wir waren in allen Belangen überlegen. Wir haben unser Herz auf dem Platz gelassen, wie sich das für ein Derby gehört", sagt Max Kruse nach dem Spiel, in dem nur die zum Ende recht schlampige Chancenverwertung einen höheren Sieg verhindert. Die offizielle Statistik weist später einen Expected-Goals-Wert von 2,51 zu 0,28 aus. Dieser Wert stellt, kurz gesagt, die Qualität aller Chancen dar. Die wahrscheinlich kurioseste hat der eingewechselte Sheraldo Becker. Der kann in der Nachspielzeit auf das leere Tor zielen, nachdem Hertha-Keeper Alexander Schwolow und der ehemalige Nationalspieler Marvin Plattenhardt außerhalb des Strafraums dilettantisch um den Ball streiten und ihn herschenken. Doch der Schuss trudelt am langen Pfosten vorbei ins Aus.
Den Fans auf der Waldseite ist es egal. Auf dem Podium, das sonst den Vorsängern gehört, feiern ein paar Kinder mit den restlichen Zuschauern. Auch, wenn die letzte Demütigung nicht gelingt. Was kein Problem ist, weil die 90 Minuten eine einzige Demütigung für den Stadtrivalen sind. Es ist ein Klassenunterschied, der Hertha erneut in den Tabellenkeller stürzt und Union auf Platz fünf der Liga springen lässt. 2:0 - aber eigentlich 5:0. Gefühlt.
Mit insgesamt 16 Torabschlüssen zu Herthas sechs sind die Kräfteverhältnisse nicht einmal annähernd genau abgebildet. Herthas 55 Prozent Ballbesitz sind reine Augenwischerei. An diesem Samstag spielt nur eine Mannschaft Fußball, folgt nur eine Mannschaft ihrem Plan: Union. "Wir sind bis zur gegnerischen 30-Meter-Zone gut vorangekommen, dann sind wir aber nicht zu Abschlüssen gekommen. Und wenn dann mal ein Schuss geglückt ist, dann ist er einfach zu harmlos gewesen. Der Gegner war einfach besser, dynamischer, stärker", sagt Pal Dardai nach dem Spiel bei Sky.
Endzeitstimmung
Hertha bleibt so harmlos, wie man sich die Entwicklung der vierten Welle gewünscht hätte. Doch die entfaltet weiter ihre Wucht. Die 22.012 Zuschauer in der ausverkauften Alten Försterei sehnen sich nach einer Normalität, die womöglich erst wieder nach einem weiteren, langen Corona-Winter möglich sein wird. Bereits in der Nachspielzeit zünden ein paar Hertha-Zuschauer pflichtschuldig noch ein paar Rauchtöpfe. Wenn Niederlage, dann auch im Rauchnebel. Sie zitieren die Mannschaft vor den Block. Redebedarf nach einem frustrierenden Auftritt.
Die Eisernen feiern die Stadtmeisterschaft, geben den Auswärtsfans ein "Seht Ihr, Hertha, so wird das gemacht" mit auf die Rückreise und machen sich dann selbst zurück auf den Weg in die Stadt. Stadionsprecher Arbeit empfiehlt ihnen, dass sie diesen Moment des Derbysiegs im Herzen bewahren sollen. Es könnte ein langer Winter werden, sagt er. Es klingt wie ein Abschied für lange Zeit. Draußen braut sich was zusammen, das stärker und wuchtiger ist als jede Stadtmeisterschaft.
Quelle: ntv.de