Fußball

Zu Gast bei Taliban-Freunden? "WM 2022 soll nicht störungsfrei stattfinden"

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Neu ist die Katar-Kritik nicht. Aber sie flammt neu auf.

(Foto: imago images/MIS)

Gastarbeiter, die sich buchstäblich zu Tode schuften, Menschenrechte, die nur ein Gerücht sind - und nun auch noch die Unterstützung der Taliban: Viele Fußballfans können sich noch immer nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass die nächste Weltmeisterschaft ausgerechnet in Katar ausgetragen werden soll. Die renommierten Fußball-Autoren Bernd M. Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling werben in ihrem Buch "Boykottiert Katar 2022!" für einen Boykott. Im Gespräch mit ntv.de erklärt Schulze-Marmeling, warum der Fußball-Weltverband FIFA seine Turniere gern an autokratische Regime vergibt, was der FC Bayern mit der Anti-Katar-Stimmung zu tun hat - und warum die Nationalmannschaft bei der WM die "Human Rights"-T-Shirts wieder rausholen müsste.

ntv.de: Herr Schulze-Marmeling, wenn wir eine Erinnerung brauchten, mit wem das schöne Spiel sich eingelassen hat, haben wir sie vergangene Woche bekommen: Der Taliban-Führer Mullah Baradar wurde nach Afghanistan eingeflogen - von der katarischen Luftwaffe. Von der Armee des Landes also, das die WM 2022 austragen wird. Die Welt zu Gast bei Taliban-Freunden, kann das der Ernst der FIFA sein?

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Dietrich Schulze-Marmeling: FIFA-Präsident Gianni Infantino ist ein großer Fan von Katar. Und Katar ist ein Finanzier der FIFA und des europäischen Fußballs. In den Luxushotels von Doha logiert allerdings nicht nur die FIFA, sondern in den letzten Jahren auch die Führung der Taliban. Infantino ist in dieser Sache völlig stumpf, Menschenrechte interessieren ihn nicht wirklich. FIFA-Menschenrechtskampagnen haben die Funktion eines Sichtschutzes, hinter dem man dann mit den Autokraten und Diktatoren fröhlich kungelt. Katars Politik kann man kurz so beschreiben: Zunächst stärkt man die Islamisten, Hamas, die Taliban und andere - dann bietet man sich als Vermittler zwischen diesen und dem Westen an. Auf diese Weise schiebt Katar den Islamismus in die "Mitte" der Welt-Gesellschaft.

In Afghanistan klammern sich Menschen an Flugzeuge, weil sie den Taliban und ihrer gewalttätigen Herrschaft entfliehen wollen. In Katar regieren nicht Männer mit Maschinenpistolen, sondern Männer mit tiefen Taschen und guten Umgangsformen. Trotzdem basiert die Gesellschaft in Katar auf der Scharia, die Menschenrechte gelten nicht für alle. Lässt sich das Turnier irgendwie übereinbringen mit den Werten, die FIFA, aber auch DFB und andere Verbände für sich reklamieren?

Ich denke mal, dass in den nächsten Wochen Folgendes passieren wird: Man wird Islamismus und Scharia klein- und schönreden. In Katar sind zwar Auspeitschungen vorgesehen, wenn Muslim:innen Alkohol trinken oder gesetzeswidrigen Geschlechtsverkehr haben. Zur Anwendung kommt die Strafe aber nur selten - und das ist doch toll! Ehebruch kann mit dem Tod bestraft werden, sofern eine muslimische Frau und ein nicht-muslimischer Mann daran beteiligt sind. Aber in der Praxis wird die Todesstrafe nur in besonders schweren Mordfällen verhängt - auch das ist doch toll! Unsere Ansprüche an Menschenrechte sinken dramatisch, die WM in Katar wird ein Meilenstein in dieser Entwicklung sein.

Eigentlich müsste der DFB bei der Weltmeisterschaft also die "Human Rights"-T-Shirts wieder aus dem Schrank holen, oder?

Völlig richtig.

Dann würde es aber wahrscheinlich eine Strafe setzen, also Geld kosten - erfahrungsgemäß der Punkt, an dem die Haltung endet. Braucht es im Fußball auch endlich mal einen Colin Kaepernick, den farbigen NFL-Quarterback, der für seine Überzeugungen seine sportliche Karriere ruiniert hat?

Das würde unserer Boykott-Kampagne sicher enormen Aufschwung geben, klar. Aber ich möchte die Spieler in Schutz nehmen, die nach der T-Shirt-Aktion teilweise hart kritisiert wurden: Klar wäre es konsequenter gewesen, Katar beim Namen zu nennen, statt nur für "Human Rights" zu protestieren. Als jemand, der das Fußballgeschäft lang genug verfolgt, um sich an die WM 1978 in der Militärdiktatur Argentinien zu erinnern, sage ich aber: Das ist ein Riesenfortschritt. So etwas wäre 1978 nicht denkbar gewesen. Und so ein Boykott ist für die Spieler viel schwieriger als für die Fans. Für einen Mittzwanziger könnte es das einzige große Turnier der Karriere sein. Wir müssen einfach nur mal den Fernseher ausschalten.

Bei den Fans müssen Sie offensichtlich gar nicht mehr viel Überzeugungsarbeit leisten - 65 Prozent der Deutschen sprechen sich für einen Boykott der WM in Katar aus, hat eine Umfrage im Mai ergeben. Hat Sie das überrascht?

Ja, wobei ich eine andere Zahl noch überraschender fand - ich habe damit gerechnet, dass viele Befragte dabei sind, die nicht fußballaffin sind. Denen geht der immer dominantere Fußball ohnehin tierisch auf die Nerven. Aber unter den erklärten Fußballfans liegt der Wert auch bei 61 Prozent, das ist die eigentliche Überraschung.

Woher rührt die Stimmung? Geht es wirklich um Katar oder um eine Art Generalabrechnung?

Es gibt eine allgemeine Proteststimmung gegen die Entwicklung, die der Fußball eingeschlagen hat. Mit Katar wurde eine rote Linie überschritten, wo viele sagen: Stopp, bis hierhin und nicht weiter!

Aber die WM wurde schon 2010 nach Katar vergeben - warum jetzt diese Zuspitzung?

Ja, einige Jahre lang herrschte Ruhe. Richtig in Schwung gekommen ist die Diskussion im Frühjahr, weil die Qualifikation begonnen hat. Und plötzlich positionierten sich Profivereine in Norwegen gegen die WM, in Dänemark ebenso. Dann tauchten Meldungen über 6500 tote Gastarbeiter auf - wohlgemerkt nicht alle auf WM-Baustellen. Und Deutschland diskutierte über die Klub-WM in Katar, die eigentlich niemand auf dem Schirm hatte - bis sich Karl-Heinz Rummenigge darüber beschwerte, dass das Nachtflugverbot auch für den FC Bayern gilt. Da muss man sich schon fragen: Ist eigentlich die Abflugzeit das Problem oder der Zielort?

Warum gleich ein Boykott? Solche Forderungen sind ja gegenüber Russland 2018 auch nicht wirklich laut geworden. Der Autor Ronny Blaschke, den Sie im Buch zu Wort kommen lassen, fordert stattdessen einen Dialog auf Augenhöhe.

Das steht ja in keinem Widerspruch. Eine starke Boykottbewegung liegt im Interesse derer, die es mit Dialog versuchen wollen. Die können auf den drohenden Boykott verweisen und sagen: Bewegt Euch! Was Russland angeht: Da wurde auch ein Dialog eingefordert, und kritischen Stimmen wurde gesagt, die WM werde das Land öffnen und demokratisieren. Das war nicht der Fall, es ist eher repressiver seit der WM.

Was macht Katar zu einem besonderen Fall?

Es fängt an mit dem Ausmaß der Korruption bei der Vergabe. Klar weisen einige Leute auf unser "Sommermärchen" hin - aber das bedeutet ja nicht, dass man mal einen Punkt setzt und sagt: Jetzt ist gut. Und dann haben wir es in Katar mit einem absolutistischen Regime zu tun, in dem der Islam Staatsreligion und die Abkehr davon ein Kapitalverbrechen ist, in dem die Rechte von Arbeitern, Frauen, Homosexuellen nicht gelten. Es gilt, die Kollaboration der FIFA mit solchen autokratischen Regimes aufzubrechen.

Sie schreiben, die FIFA vergebe die WM nicht in solche Länder, obwohl sie autokratisch regiert werden, sondern weil sie autokratisch regiert werden. Was reizt den Weltverband an der Liaison mit Schurkenstaaten?

Diese Regime garantieren, dass so eine WM ordnungsgemäß durchgezockt wird. Und weil die Länder vom Sportswashing profitieren, sind sie auch bereit, die finanziellen Ressourcen für so ein gigantisches Event bereitzustellen.

Nationalspieler Joshua Kimmich hat Ihnen quasi in der Sache recht gegeben, wendet aber ein, dass die Boykottbewegung reichlich spät dran ist ...

Das müsste er den Bayern-Verantwortlichen sagen, die seit 2010 enge Beziehungen nach Katar pflegen. Denen dürfte die Situation dort nicht entgangen sein.

Trotzdem hat er wohl recht: Die WM wird am 21. November 2022 angepfiffen. Was soll dann passieren?

Ich gehe auch davon aus, dass die WM stattfindet. Ich möchte, dass sie nicht störungsfrei stattfindet. Die Entscheider sollen zur Erkenntnis kommen: Vielleicht schadet es unserem Image, wenn wir die Kollaboration mit autoritären Regimes fortsetzen. Der Boykott-Aufruf richtet sich an uns als Fans - wir müssen aus unserer Kritik heraus auch mal ernst machen und klar demonstrieren: Ey Leute, so geht's nicht weiter! Wir sollten Verbände und Sponsoren mit E-Mails und Protestschreiben bombardieren und dem DFB einen klaren Auftrag mitgeben für seine Reise. Hierzulande können wir auf Veranstaltungen über die Situation in Katar und bei der FIFA aufklären, oder auch alternative Turniere veranstalten. Und bitte keine Teilnahme an Public Viewings!

Die FIFA gilt als nicht reformierbar. Der "Tagesspiegel" fantasierte 2015 von einer Erstürmung der Zentrale durch UN-Blauhelme, Sie bezeichnen den Weltverband als "kriminelle Vereinigung". Wie soll man diese FIFA stoppen, wie Sie es im Buchtitel fordern?

Ehrlich gesagt bin ich da ein bisschen ratlos. Eigentlich müsste man einen alternativen Weltverband gründen. Das denke ich mir auch beim DFB. Man muss sich den beiden Verbänden entziehen und sagen: Sorry, ihr seid nicht die Autorität des Weltfußballs.

Wäre ein erster - und einfacherer - Schritt nicht ein Totalboykott? Nicht nur die WM, auch die EM, Champions League, Bundesliga?

Das sehe ich nicht so. Worauf können wir Einfluss nehmen? Am ehesten auf DFB und DFL, die wir zu einer kritischeren Haltung bewegen müssen. Wenn noch die Verbände von England, Frankreich, Italien mitmachen - dann findet so eine WM in Katar nicht statt. Wobei so eine Allianz illusorisch wäre, wenn wir uns den Einfluss des katarischen Geldes auf den europäischen Spitzenfußball vergegenwärtigen. Der FC Bayern würde da nicht ohne Weiteres mitspielen.

Weil er das Sponsorengeld aus Katar kassieren will. Und die Fans wollen am Ende auch lieber in Ruhe ihre Spiele sehen, oder?

Zur Person

Dietrich Schulze-Marmeling, Jahrgang 1956, zählt zu den renommiertesten Fußballautoren deutscher Sprache. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter "Der gezähmte Fußball", Chroniken zu Bayern München und Borussia Dortmund sowie Werke über George Best, den FC Barcelona, Manchester United, Celtic Glasgow und den FC Liverpool. Schulze-Marmeling ist Mitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur und Mit-Initiator von #BoycotQatar2022.

Der gemeine Fußballfan ist opportunistisch. Solange sein Verein und seine Nationalmannschaft erfolgreich spielen, gibt's wenig zu kritisieren. Das beste Beispiel ist Chelsea unter Abramowitsch, als die Frage aufkam, wo eigentlich das Geld herkommt. Die Fans haben gesungen: "Sind es Drogen, sind es Waffen, ist es Öl - scheißegal."

Ich glaube schon, dass es eine Absetzbewegung gibt, hin zum Amateurfußball, wo man noch Einfluss hat. Wir müssen uns nichts vormachen: Diese Bewegung ist klein. Aber es herrscht eine große Unruhe. Allen muss klar sein: Das Reden muss aufhören, es muss jetzt Taten geben, oder die Fußballfamilie spaltet sich noch weiter auf als ohnehin schon.

Mit Dietrich Schulze-Marmeling sprach Christian Bartlau

Quelle: ntv.de

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