Kritik an ter Stegen unberechtig Was ist Barça ohne Messi wert?
29.09.2015, 14:09 Uhr
Er fehlt, natürlich: Lionel Messi.
(Foto: imago/VI Images)
Nach der Verletzung von Lionel Messi prophezeit unser Taktikexperte dem FC Barcelona harte Wochen. Vor dem Duell gegen Leverkusen analysiert der n-tv-de-Kolumnist Barças Form, Torhüter ter Stegen und die Chancen für die Bayer-Elf.
Bayer Leverkusen hätte für das Gastspiel beim FC Barcelona in der Champions League (heute ab 20.45 Uhr im Liveticker bei n-tv.de) keinen günstigeren Zeitpunkt erwischen können. Der Ausfall von Lionel Messi steigert die Chancen, heil nach Hause zu kommen und vielleicht sogar einen Punkt mitzunehmen. Doch auch von Messis Innenbandanriss abgesehen bietet der Titelverteidiger aus Katalonien zu Beginn dieser Saison mehr Angriffsflächen als üblich. Natürlich hat Barça auch ohne Messi einen hervorragenden Kader.
FC Barcelona: ter Stegen - Sergi Roberto, Piqué, Mascherano, Jordi Alba - Rakitic, Busquets, Iniesta - Suarez, Sandro Ramirez, Neymar. - Trainer: Luis Enrique
Bayer Leverkusen: Leno - Donati, Tah, Papadopoulos, Wendell - Kramer, Bender - Bellarabi, Calhanoglu - Kießling, Hernández. – Trainer: Schmidt
Schiedsrichter: Atkinson (England)
Dennoch prophezeie ich den Katalanen schwierige Wochen; das wird eine durchwachsene Zeit, möglicherweise mit ein paar Remis und auch mal einer Niederlage. Dafür gilt es die Spieler psychologisch vorzubereiten. Nicht von ungefähr spricht Trainer Luis Enrique von einer "Prüfung" für seine Mannschaft. Er setzt also motivational keinesfalls auf das Prinzip Hoffnung, sondern nimmt sein gesamtes Team in die Pflicht, den Ausfall des Superstars zu kompensieren.
Insbesondere Messis Sturmkollegen Luis Suarez und Neymar müssen mehr Verantwortung übernehmen. Denn ein adäquater Ersatz für Messi ist derzeit auch aufgrund der Transfersperre der Fifa nicht vorhanden. Erst jetzt, nach den Verletzungen von Rafinha und Messi, sieht man, wie hart Barcelona das Verbot trifft. Die Zugänge Arda Turan und Aleix Vidal sind daher erst im Januar spielberechtigt. Und der Verkauf von Pedro, der in der aktuellen Situation Gold wert gewesen wäre, rächt sich jetzt. Vielleicht bietet die Kadersituation aber eine Chance für Spieler aus der zweiten Reihe oder gar der zweiten Mannschaft. Ich habe das B-Team gesehen, und mir ist besonders Kapitän Alejandro Grimaldo auf dem linken Flügel aufgefallen. Aber auch er kann Lionel Messi natürlich ebenso wenig ersetzen wie die übrigen Youngster, die den Kader auffüllen.
Bereits 17 Gegentore in dieser Saison
Auch mit einem gesunden Messi hatte der FC Barcelona zum Start dieser Spielzeit einige Anlaufschwierigkeiten. Nicht erst nach der 1:4-Niederlage vor einer Woche in der Primera División gegen Celta Vigo wunderten sich viele deutsche Beobachter, was mit der Barca-Abwehr und Torhüter Marc-André ter Stegen los ist. Der Königsklassensieger hat in dieser Saison wettbewerbsübergreifend bereits 17 Gegentore hinnehmen müssen; in drei Spielen kassierte das Team sogar jeweils vier Gegentreffer.
Doch einen Trend mag ich daraus nicht ableiten. Dafür waren die übrigen Leistungen in der Liga zu konstant, wo der Klub ja auch wieder an der Spitze steht. Individuelle Schwankungen sind auch auf diesem Topniveau ganz natürlich. Wenn sich diese innerhalb der Mannschaft summiert, können auch mal vier Gegentore herauskommen. Keeper Ter Stegen war an den Gegentreffern zum Großteil unschuldig. Die spanische Presse wirft ihm zwar vor, dass er derzeit nicht das Selbstvertrauen und die Ausstrahlung habe, um mal ein, zwei unhaltbare Bälle zu entschärfen.
Daniel Memmert leitet das Institut für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule Köln. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen im Bereich der Sportspielforschung, hier geht es um Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Kreativität, Spielintelligenz und Motivation. Er besitzt Trainerlizenzen in den Sportarten Fußball, Tennis, Snowboard sowie Ski-Alpin und ist Herausgeber und Autor von Lehrbüchern zu modernem Fußballtraining. Seine neueste, populärwissenschaftliche Veröffentlichung - gemeinsam mit Bernd Strauss und Daniel Theweleit - heißt: "Der Fußball. Die Wahrheit. Fußballspiele werden im Kopf entschieden".
Und auch wenn man im Stadion ist, ist zu spüren, dass der Ex-Gladbacher in den Ligaspielen nicht den Rückhalt hat wie sein derzeit verletzter Konkurrent Claudio Bravo. Doch die Kritik an ter Stegen ist unberechtigt. Sein Torwartspiel ist sehr modern, er steht extrem hoch, fängt viele lange Bälle ab, fungiert teilweise als Libero. Da muss man akzeptieren, dass pro Saison ein, zwei lange Bälle des Gegners ins Tor fliegen so wie beim 0:4 gegen Athletic Bilbao. Die teils deftige Kritik, die jetzt auf ihn einprasselt, muss und wird er mit der Rückendeckung des Vereins aushalten. Intern wird ter Stegens Stil sehr geschätzt.
Der Gegner sollte sehr offensiv verteidigen
Dass sich Barcelona defensiv bisweilen anfällig zeigte, liegt zum einen an der noch wenig eingespielten Viererkette. Zum anderen möglicherweise auch an einigen taktischen Neuerungen. Vor der Saison haben Messi & Co. intensiv an spielerischen Lösungen gegen tief stehende Gegner gearbeitet, um im vordersten Angriffsdrittel mehr Torgefahr zu entwickeln. Ein Beispiel: Wenn sich die gegnerische Vierer- oder Fünfer-Mittelfeldkette in ein eine bestimmte Zone des Spielfelds verschoben hat, verlagert Barça das Spiel mit einem langen, scharfen und sehr präzisen Diagonalball auf die andere Seite. Dort warten dann nicht nur ein Spieler, sondern gleich zwei Akteure, denen der Ball direkt in den Lauf gespielt wird. Dadurch kreiert Barcelona im besten Falle eine Zwei-gegen-eins-Situation und kann entweder ein Dribbling wagen, Doppelpass spielen oder auch in die Mitte ziehen.
Ein anderes Beispiel sind die Laufwege der extrem offensiven Außenverteidiger, die nicht an der Seitenlinie kleben, sondern erst nach innen in die Mitte ziehen und dann vertikal nach außen stoßen. So lassen sich weitere überraschende Momente kreiieren, indem Spieler in Räumen auftauchen, in denen sie niemand vermutet. In Schwierigkeiten kam die Mannschaft vor allem dann, wenn der Gegner sehr offensiv verteidigt. Das ist man in Barcelona nach wie vor nicht gewohnt. Dass sich die "Blaugrana" zuletzt eher mit dem Spiel gegen tief stehende Mannschaften mit 4-5-1-System beschäftigt hat und weniger mit Teams, die früh pressen und selbst Druck ausüben, könnte eine Chance für Bayer sein.
Nur wenn es die Leverkusener schaffen, ihr Spiel durchzuziehen - was in Barcelona viel Mut erfordert - haben sie eine Chance. Das 4:1 von Celta Vigo gegen Barça sollte sich das Team von Roger Schmidt dafür als Beispiel nehmen. Wenn das tatsächlich in den Köpfen der Spieler der Bayer-Elf ankommt, wenn sie im Videostudium begreifen, wie Barcelona gegen Celta Vigo unter Druck geriet und die Spieler gar nicht wussten wie ihnen geschah, dann könnte eine offensive Ausrichtung in der aktuellen Situation die beste Strategie für Leverkusen sein, um beim FC Barcelona zu bestehen.
Aufgezeichnet von Ullrich Kroemer
Quelle: ntv.de