
Oliver Kahn leistete sich einen folgenschweren Aussetzer.
Vor 20 Jahren ist der klassische Torhüterfehler von Oliver Kahn im Achtelfinal-Hinspiel der Champions League gegen Real Madrid der Startschuss zu einem langsamen und am Ende so tragischen Ausklang einer großen Torwart-Karriere. Doch das kann damals, im März 2004, noch niemand erahnen.
"Kahn-Blackout verhindert Bayern-Sieg!" Die fette Schlagzeile nach einem denkwürdigen Abend im Münchener Olympiastadion vor 20 Jahren tat dem Rekordmeister weh - und einem ganz besonders: Oliver Kahn. Die Bayern hatten im Achtelfinale der Champions League gegen Real Madrid über weite Strecken der Partie groß aufgespielt und nun standen sie nach dem Schlusspfiff da und wussten nicht recht, was mit ihnen zuvor in der 83. Minute geschehen war.
Der "Kicker" schrieb am nächsten Morgen unter der Überschrift "Roberto Carlos düpiert Kahn": "Der FC Bayern verschenkte nach einer tollen Leistung nicht nur den Sieg, sondern sogar eine hervorragende Ausgangsposition fürs Rückspiel. Nach einem katastrophalen Patzer von Kahn sicherte sich das in allen Belangen unterlegene Starensemble von Real ein sehr glückliches Remis." Was genau war aber geschehen? Reals Roberto Carlos hatte einen Freistoß aus gut 30 Metern flach aufs rechte Eck geschossen. Eigentlich kein Problem für einen Torhüter. Doch Kahn hatte den Ball unter dem Körper ins Tor kullern lassen. Ein klassischer Blackout!
Kahn bemüht sich um Stärke und Gelassenheit
Was damals allerdings noch niemand wusste: Die Geschichte war noch viel tragischer, als man es in diesen unglücklichen Sekunden auch nur erahnen konnte. Denn es sollte der Startschuss zu einem langsamen und am Ende so tragischen Ausklang einer großen Karriere des Vize-Weltmeister-Torhüters von 2002 in Japan und Südkorea werden. Denn man darf vorwegnehmen: Die Bayern scheiterten zwei Wochen später in Madrid am Einzug ins Viertelfinale. Der späte Ausgleich zum 1:1-Endstand im Hinspiel wog offensichtlich zu schwer auf den Schultern der ohnehin angeschlagenen Bayern-Profis. Das 1:0 von Zinédine Zidane in der ersten Hälfte reichte Real zum Weiterkommen. Und Oliver Kahn? Der versuchte nach außen stark und abgeklärt zu wirken ("Ich bin doch keine 20 mehr. Nach zwei Tagen war es abgehakt"), doch das gelang ihm nur schlecht als recht. Denn der Nationalkeeper stand damals fast täglich mit wechselnden Storys in den Schlagzeilen.
Einerseits war da sein Herausforderer in der Nationalelf, Jens Lehmann, der seit dem vergangenen Sommer 2003 immer mehr öffentlichen Druck aufbaute und Sachen in den Medien sagte, die lange nachwirkten: "Ich fühle in Deutschland nicht den gebührenden Respekt. Mein Problem ist, dass ich nur die Nummer zwei in der Nationalmannschaft bin, obwohl ich denke, dass ich spielen sollte. Momentan bin ich besser als Kahn." Und andererseits waren da die Geschichten über sein Privatleben.
Nach der Trennung von seiner Frau hatte Kahn eine Beziehung mit einer Diskotheken-Bekanntschaft begonnen, die naturgemäß ordentlich Futter für die Boulevardpresse bot. Der Bayern-Torhüter beklagte irgendwann zurecht, dass die Berichterstattung über sein Privatleben "ins Groteske" ginge. Scheinheilig fragte die "Bild"-Zeitung damals: "Zerbricht Olli Kahn?". Bayerns Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge war ebenfalls sauer und versuchte - an das nationale Wohl appellierend - deeskalierend zu wirken: "Wenn das so weitergeht, wird er systematisch aus dem Land getrieben. Oliver Kahn ist ein großer Kämpfer. Aber er ist auch nur ein Mensch, der einen sensiblen Punkt hat. Man treibt ihn, einen der wenigen Hoffnungsträger für die WM 2006, langsam, aber sicher fort." Was Rummenigge damals noch nicht wusste: Das Thema Nationalmannschaft sollte am Ende zu ganz anderen Problemen führen, als die, die der Bayern-Offizielle zu diesem Zeitpunkt sah.
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Erst einmal führte Oliver Kahn direkt nach dem Hinspiel und seinem Fehler gegen Real Madrid ein überaus bemerkenswertes Interview. Der "Sport Bild" gegenüber sagte er: "Der einzige Kampf, den ich noch führe, ist der Kampf gegen mich selbst. Tagein, tagaus ein Ringen gegen mich selbst." Und der Bayern-Keeper verriet, dass er sich nach der Partie gegen Real "wie immer" den Film "Papillon" angeschaut habe: "Kein Film zeigt so schön, wie man an sein Ziel kommt. Was man ertragen muss, welche Verwundungen man wegstecken muss. Wie viel Willenskraft es braucht, immer weiterzumachen. Sich von nichts, und wenn die Rückschläge noch so brutal sind, von dem abbringen zu lassen, was man will."
Und so versuchte, Oliver Kahn diesen sportlichen Rückschlag ("Es ist einfach nur Torwartpech. Sonst nichts") schnell wieder zu vergessen, doch die Realität sah anders aus. Zwar schaffte er es, bei der EM 2004 im Kasten der Nationalmannschaft zu stehen, doch das katastrophale Vorrunden-Aus stärkte seine Position als Nummer Eins natürlich nicht. Die Schlagzeilen und die Demütigungen ("Luder, Lappen, Litauen", Bernd Schmelzer in einem ARD-Bericht über Kahn) gingen weiter. Und selbst sein Torwart-Trainer Sepp Maier trieb öffentlich seine Späße über Kahn: "Die Zentimeter, die ihm jetzt bei manchen Toren fehlen, braucht er zurzeit woanders." Doch das war bei Weitem noch nicht alles. Denn auf den Bundestrainer Rudi Völler folgte nach der erfolglosen Europameisterschaft Jürgen Klinsmann - und der hatte als eine seiner ersten Entscheidungen einen echten Hammer für den Bayern-Keeper in petto.
Klinsmann verkündete zur Überraschung aller: Ab sofort wäre nicht mehr Oliver Kahn der Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, sondern Michael Ballack. Und auch seine nächste Entscheidung führte nicht dazu, die Position von Kahn zu stärken. Im ersten Spiel unter seiner Regie ließ Klinsmann sowohl Kahn als auch Lehmann jeweils eine Hälfte spielen. Fortan war der Kampf um die Nummer Eins im Kasten der Nationalelf auch öffentlichkeitswirksam eröffnet. Ein Kampf, den Oliver Kahn, wie er später einmal meinte, vielleicht nie habe gewinnen können: "Natürlich habe ich mir viele Fragen gestellt. Haben Klinsmann und Lehmann nicht denselben Anwalt? Kannten sich Lehmann und DFB-Manager Oliver Bierhoff nicht seit der Kindheit? Ist es ein Zufall, dass ihre Frauen befreundet sind?"
"Junge, was machst du eigentlich?"
Als sich im Frühjahr 2006 die Ereignisse dramatisch verdichteten - Kahn unterliefen erneut Fehler, Lehmann spielte mit Arsenal groß auf und die Bayern forderten daraufhin, eine vorzeitige Entscheidung vom Bundestrainer, um ihren eigenen Keeper zu schützen -, verkündeten Jürgen Klinsmann und Torwarttrainer Andreas Köpke, dass bei der heimischen Weltmeisterschaft 2006 Jens Lehmann im Tor der Nationalmannschaft stehen würde. In einer ersten Reaktion zeigte sich Kahn anschließend sehr professionell und erstaunlich gefasst: "Ich bin sehr überrascht und enttäuscht über diese Entscheidung und werde in den nächsten Wochen über meine Zukunft bei der Nationalmannschaft entscheiden". Was danach geschah, ist Geschichte.
Damals vor zwanzig Jahren, nach dem Blackout gegen Real Madrid, hat Oliver Kahn tief in seine Seele blicken lassen. Er habe sich schon häufiger die Frage gestellt: "Junge, was machst du eigentlich? Das hast du doch gar nicht mehr nötig, setz dich irgendwo hin, und genieß das Leben." Aufhören allerdings, war für den Mann, der den Spruch - "Weiter. Immer weiter" - prägte, nie eine Lösung. Doch vielleicht hat ihn dieses tragische Ende in der Nationalelf mit dem schönen Abschied im Spiel um Platz drei bei der WM 2006 gegen Portugal auf eine gewisse Weise mit sich selbst versöhnt. Denn schon nach dem Spiel und seinem Fehler vor zwanzig Jahren gegen Real Madrid wusste Kahn: "Um dein Leben zu genießen, hast du noch genügend Zeit."
Quelle: ntv.de