Wer schafft's ins WM-Finale? Ein Sowjet-Buch wird zum Weltmeister-Orakel
09.07.2018, 16:35 Uhr
Ein Buch aus der UdSSR gibt Hinweise darauf, welches Fußball-Nationalteam am 15. Juli den WM-Pokal in die Höhe stemmen darf.
(Foto: AP)
Wer wissen will, wie die Halbfinalspiele der Fußball-WM ausgehen, dem empfehlen wir ein Buch, das 1972 in der Sowjetunion erschien. Das erzählt von weichen Franzosen, unerbittlichen Belgiern, kreativen Engländern und kunstvollen Kroaten. Ob das alles stimmt?
Die vier besten Fußballmannschaften dieses Planeten kommen also aus Europa. Die Belgier spielen am Dienstag (ab 20 Uhr im Liveticker bei n-tv.de) im ersten Halbfinale der Weltmeisterschaft im Sankt Petersburger Krestowski-Stadion gegen die Franzosen. Die Engländer treten am Mittwoch, ebenfalls ab 20 Uhr, gegen die Kroaten im Moskauer Luschniki-Stadion an. Und, wer gewinnt? Wer erreicht das Endspiel, das am Sonntag ab 17 Uhr in der russischen Hauptstadt stattfindet? Und wer muss am Samstag zum Spiel um die Goldene Ananas nach Petersburg? Das wissen wir auch nicht.
Womöglich aber haben wir einen kleinen Wissensvorsprung. Den beziehen wir aus dem wunderbaren Buch "Alles über den Fußball - Länder, Vereine, Turniere, Spieler, Trainer, Schiedsrichter". Das ist im Jahr 1972 in der Sowjetunion im Moskauer Verlag "Fiskultura i Sport" erschienen, ein Quell der Expertise - und das für seinerzeit 94 Kopeken. In den 46 Jahren, die seitdem vergangen sind, kann sich ja nicht so viel verändern haben. Oder? Dann schauen wir doch mal:
Frankreich: "Der Spiel-Stil französischer Fußballer ist weich, technisch, aber nicht athletisch und schnell genug - er ist eine Variante des romanischen Fußballs. Die Franzosen spielen besser im Sturm als in der Verteidigung und erweisen sich seit Langem als Anhänger eines angreifenden Fußballs. In finanzieller Hinsicht sind französische Profivereine schwächer als die in Italien und Spanien. In den vergangenen Jahren ist der Anteil ausländischer Spieler in Frankreich signifikant gewachsen, sie kommen vor allem aus Europa und aus afrikanischen Ländern. Frankreich hat der Fußballwelt prominente Sportler wie Jules Rimet und Henri Delaunay geschenkt."
Nicht athletisch, nicht schnell genug? Wer den 19 Jahre alten Kylian Mbappé und seine Kollegen in diesen Wochen durch Russlands Stadien flitzen sieht, der kann kein Tempolimit erkennen. Aber das mit den "Anhängern eines angreifenden Fußballs" lassen wir mal gelten. Das 4:3 gegen Argentinien im Halbfinale war ein Fest. Die Abwehr um die Innenverteidiger Samuel Umtiti und Raphaël Varane hält den Laden ganz ordentlich zusammen und Varane erwies sich beim 2:0 im Viertelfinale gegen Uruguay selbst vom Offensivgeist beseelt und köpfte das erste Tor. Die Mannschaft von Trainer Didier Deschamps, der 1998 als Kapitän mit der Équipe Tricolore zum ersten und bisher einzigen Mal die WM gewann, zeichnet aus, dass sie Merkmale eines Champions vereint: Die Mischung und das Klima stimmen, die Leistung passt, Arbeitssieg und Offensivspektakel inklusive. Zu weich für den Titel scheint diese multikulturelle Combo - signifikante 14 Spieler haben afrikanische Wurzeln - nicht.
Belgien: "Belgiens Fußballer haben sich stets durch ein technisches, weiches, nicht ausreichend athletisches Spiel ausgezeichnet, spielen aber neuerdings deutlich härter und unerbittlicher. Charakteristischer Bestandteil des belgischen Fußballs ist der Einsatz ausländischer Spieler, von denen es in der Saison 1970/71 54 gab. Die belgische Nationalmannschaft (die in weißen Trikots und weißen Hosen spielt) absolvierte ihr erstes internationales Spiel am 1. Mai 1904 gegen die französische Nationalmannschaft (3:3). Mit der Ausnahme von 1950 hat Belgien an allen Fußball-Weltmeisterschaften teilgenommen, davon erreichte es fünf Mal die finale Phase."
Na, das passt doch. Und ein 3:3 wäre am Dienstagabend für alle ein Fest, auch wenn es letztlich einen Sieger geben muss, notfalls in der Lotterie namens Elfmeterschießen. Werden das die unerbittlichen Belgier sein? Das könnte auch von Romelu Lukaku abhängen, der wie kein zweiter Angreifer bei dieser WM Athletik und Eleganz vereint. Erreicht das Team des spanischen Trainers Roberto Martínez tatsächlich das Endspiel, wäre das der größte Erfolg in der nun seit mehr als 114 Jahren währenden Länderspielgeschichte des Landes. Bisher ist das der vierte Rang bei der WM 1986 in Mexiko, als die Belgier die Partie um Platz drei gegen, genau, die Franzosen verloren. Auch hier muss die Frage, ob sie zu weich für den ganz großen Coup sind, mit einem klaren Nein beantwortet werden. Haben Sie mal Kevin de Bruyne durchs Mittelfeld fräsen sehen? Also. Aber das konnte 1972 ja keiner ahnen.
England: "England ist die Heimat des heutigen Fußballs. Am 26. Oktober 1863 wurden dort die ersten Spielregeln erarbeitet und der erste Fußballverband der Welt gegründet, die Football Association. Herausragendes Merkmal des englischen Fußballs war stets seine Athletik, seine rationale Technik, sein kunstvolles Kopfballspiel und der lange Pass als grundlegende taktische Waffe. Über Jahrzehnte hinweg haben die Engländer die Art der Spieltaktik vorgegeben. Sie waren die Ahnen des 'WM-Systems'. Gleichzeitig fehlten den Engländern die taktische Flexibilität und Abwechslung. Erst in jüngster Zeit gelang es ihnen, die besten Elemente ihrer nationalen Schule an die Anforderungen des zeitgenössischen Fußballs anzupassen. Viele englische Trainer haben inzwischen den Dogmatismus festgefahrener Ansichten überkommen und gehen nun die Lösung taktischer und anderer Aufgaben kreativ an."
Ach ja, der Fußball kommt nach Hause, sagen und singen sie auf der Insel. Und zumindest gemessen am Erfolg in Russland erfüllen die Engländer "die Anforderungen des zeitgenössischen Fußballs" so gut wie seit langer Zeit nicht mehr. Zuletzt standen sie bei der WM 1990 in Italien im Halbfinale. Was das "kunstvolle Kopfballspiel" betrifft, offenbaren die Autoren von "Alles über den Fußball" nahezu prophetische Gaben. Beim 2:0 gegen Schweden im Viertelfinale erzielten die Herren Harry Maguire und Dele Alli ihre Tore per Kopf. Und in Sachen Kreativität liegt Englands Gareth Southgate, der netteste und am besten angezogene Trainer des Turniers, durchaus vorne. Mittlerweile haben zeitgenössische Experten die Standards als einen Schlüssel zum Erfolg ausgemacht, Southgate hat das vorher getan. In seiner Vorbereitung flog er in die USA und beschäftigte sich mit der NBA und NFL. Und die Laufwege seiner Spieler bei ruhenden Bällen erinnern tatsächlich an Strategien aus dem Basketball oder Football, um die Gegnerspieler zu blocken. Vier der elf englischen Tore bei der WM fielen nach Freistößen und Ecken, dazu kommen drei Elfmeter.
Jugoslawien*: "Fußball gehört zu den ältesten Sportarten in Jugoslawien. Lange Zeit stand er unter dem Einfluss von Ungarn, Österreich und Italien, bis er schließlich seinen eigenen Stil entwickelte, der auf kunstvollem Umgang mit dem Ball und auf feiner Improvisation basiert. Der jugoslawische Fußball genießt breite Anerkennung und feiert viele sportliche Erfolge. Aufgrund seiner guten inneren Ressourcen kann man die Perspektiven des jugoslawischen Fußballs positiv bewerten."
Hier müssen wir ein wenig *schummeln, weil es Jugoslawien nicht mehr gibt. Natürlich geht es um Kroatien, das seit 1991 ein unabhängiges Land ist. Der größte Erfolg im Fußball ist immer noch der dritte Platz bei der WM 1998 in Frankreich. Wir aber fragen uns vor allem, was wohl mit "guten inneren Ressourcen" gemeint sein könnte. Beim Elfmeterschießen gegen Russland im Viertelfinale bewiesen die Kroaten neben aller sportlichen zumindest auch innere Stärke. Und Ivan Rakitić, der tatsächlich mal für den FC Schalke 04 gespielt hat, vor allem aber den letzten Strafstoß verwandelte, erzählte: "Der Elfmeter konnte nur reingehen bei der Unterstützung, die wir im Land haben." Trainer Zlatko Dalić hatte nach dem 3:0 im zweiten Gruppenspiel gesagt: "Argentinien war nicht konfus, wir waren exzellent." Das Selbstbewusstsein ist also nicht das Problem. Und was den "kunstvollem Umgang mit dem Ball" angeht, da sagen wir nur: Schon mal Luka Modrić Fußball spielen gesehen?
Quelle: ntv.de