Fußball-WM 2018

"Das ist erst der Anfang" Russlands WM-Märchen eskaliert zum Wunder

Fjodor Smolow lebt mit der "Sbornaja" das russische Sommermärchen.

Fjodor Smolow lebt mit der "Sbornaja" das russische Sommermärchen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Von wegen Turnier-Lachnummer: 120 Minuten russischer Fußballkampf, ein Witz von Strafstoß, spanisches Nervenflattern und dazu eine gigantische Atmosphäre - fertig ist das WM-Wunder für Gastgeber Russland.

Wunder, das ist auch im Fußball ein großes Wort. Aber genau so, als "Wunder", hatte der russische Stürmer Artem Dzyuba einen möglichen Erfolg über den Favoriten Spanien vor dem Achtelfinale seiner "Sbornaja" nunmal bezeichnet. Und wer sah und hörte, wie die Emotionen aus Dzyuba und seinen Teamkollegen und der übergroßen Mehrheit der 78.011 Zuschauer im Moskauer Luschniki-Stadion nach 120 Minuten Fußballkampf und der vorentscheidenden Elfmeterparade von Igor Akinfejews linkem großen Torwart-Zeh ohrenbetäubend und unkontrolliert herausbrachen, der verstand: Wie ein Wunder fühlte sich dieser Einzug ins Viertelfinale seiner Heim-WM für Russland auch tatsächlich an.

Selbst der Fußball-Weltverband schien es ja nicht glauben zu können. "Ich möchte den Trainer von Spanien willkommen heißen", leitete ein Fifa-Mitarbeiter die Sieger-Pressekonferenz nach dem Elfmeterkrimi ein, da war die nächste Sensation dieser an Favoritenstürzen nicht armen WM erst eine Stunde jung. Dann stutzte er, so wie alle im Saal stutzten, und schob eilig nach: "Ähm, von Russland." Denn natürlich saß dort nicht Fernando Hierro, der spanische Noch-Trainer. Dort saßen Stanislaw Tschertschessow und sein Schnurrbart, und wer den Trainer der russischen Nationalmannschaft kennt, der weiß: Natürlich hatten nicht alle gestutzt.

Tschertschessow hatte das Fifa-Fauxpäschen völlig ungerührt hingenommen. Also so ähnlich, wie er auf dem Rasen zuvor die Eskalation der russischen Heim-Weltmeisterschaft vom Märchen zum "Wunder" verlebt hatte. Als der seit 17 Uhr Ortszeit bedrohlich brodelnde Emotionsvulkan Luschniki-Stadion gegen 19.43 Uhr nach der zweiten Parade von Russlands Torwartheld Akinfejew gegen Spaniens Nervenbündel Iago Aspas schließlich ausgebrochen war, als die russischen Spieler auf ihren Bäuchen über den nassen Rasen rutschten, genau wie die tanzenden Fans schreiend vor Glück, als die tatsächlich geschlagenen Spanier fassungslos auf dem Spielfeld zusammensackten, da hatte sich Tschertschessow zunächst gar nicht gerührt. Dann erhob er beide Fäuste zum Jubel und drehte sich zum Publikum, lächelnd, das immerhin.

"Hebe ich mir meine Emotionen noch auf"

Minimal emotionaler und deutlich skurriler wurde er auf der Pressekonferenz nur, als er einem peruanischen Journalisten plötzlich ein unterschriebenes Trikot der "Sbornaja" überreichte – weil der von Anfang an Russlands WM-Erfolg geglaubt habe. Zu seinen persönlichen Emotionen nach dem größten Erfolg der jüngeren russischen Fußballgeschichte befragt, sagte Tschertschessow nur: "Meine Gefühle sind ganz einfach zu beschreiben: Jetzt ist das Spiel vorbei und ich denke nur über das nächste Match nach. Das sind sehr einfache, nicht sehr ausgeklügelte Gefühle." Etwas später fügte er, auf seinen äußerst sparsamen Jubel angesprochen, an: "Ich glaube, das ist erst der Anfang. Deshalb hebe ich mir meine Emotionen noch auf."

Das Verschmitzte mag der Fußball-Stoiker Tschertschessow auch, und er hat ja Recht: Nach diesem Spiel, das nicht nur in Spanien als letzter Akt der russischen Heim-WM-Aufführung betrachtet worden war, könnte es Russland noch weit bringen im Turnier. Im Viertelfinale am kommenden Samstag in Sotschi wartet mit Kroatien (ab 20 Uhr im n-tv.de Liveticker) der nächste Titelfavorit auf Tschertschessows Russen. In einem möglichen Halbfinale könnten es dann England, Kolumbien, die Schweiz oder Schweden sein.

 

Favorit wäre das fußballerisch limitierte Russland gegen keinen dieser Gegner, aber: Außenseiter, das war Russland bei dieser WM ja nicht nur gegen Spanien, sondern schon vor dem Turnier - ehe sich die kollektive Anspannung und Verunsicherung vor den Augen von Präsident Wladimir Putin mit der surrealen 5:0-Gala gegen seltsam indisponierte Saudi-Arabier und dem wuchtigen 3:1 gegen lasche Ägypter gelöst hatte. Auch das ernüchternde 0:3 im Gruppenfinale gegen Uruguay konnte die WM-Moral der russischen Dauerläufer nicht brechen.

Abwehrbeton aus Überzeugung

Gegen Spaniens glück- und zahnlose Passmonster kämpften sich die Russen mit einer Fünferabwehrkette durch reguläre Spielzeit und Verlängerung bis ins Elfmeterschießen. Auch ein kurioses Eigentor durch Russlands Abwehrchef Sergej Ignashevich, das Spaniens Kapitän Sergio Ramos nach einem Freistoß in der 12. Minute auf unvergleichliche Sergio-Ramos-Art herbeigewrestlelt hatte, und am Ende nur 21 Prozent Ballbesitz konnten die Russen nicht erschüttern. Die den Ball, aber nie das Spiel kontrollierenden Spanier brauchten nach ihrer glücklichen Führung bis zur 45. Minute, um einen ersten Torschuss zu verzeichnen.

 

Dass Tschertschessow ohne den Gelb-Rot-gesperrten Igor Smolnikow gegen Spanien auf eine Fünferabwehrkette umstellen würde, kam für die Fußballwelt nicht unerwartet. Für seine Spieler schon, plauderte der Coach nach dem Spiel aus. "Wir mussten ein neues System finden, aber es war eine schmerzhafte Entscheidung. Ich musste die Spieler überzeugen, dass es das ist, was wir tun müssen", sagte Tschertschessow: "Spanien ist besser als wir in so vielen Dingen. Ich war überzeugt, wir sollten nicht riskieren anzugreifen." Dies seinen Spielern zu vermitteln habe aber einige Zeit und viele Einzelgespräche benötigt, denn: "Nur weil ich eine Idee vorschlage, folgt ein Spieler ihr nicht automatisch. Er muss sie fühlen, er muss von ihr überzeugt sein."

 

Das waren die Russen, sie zerstörten das Spiel mit Lust und Leidenschaft. Als Spanien kurz vor der Pause erstmals aufs Tor schoss, war der mit Anpfiff angerührte russische Abwehrbeton längst getrocknet. Und noch wichtiger: Da hatten die Russen nach einem bizarren Bastian-Schweinsteiger-Gedächtnis-Handspiel von Gerard Pique in der 41. Minute per glasklarem Elfmeter schon ausgeglichen. Artem Dzyuba trug im Duell mit Spaniens ansonsten nicht beschäftigtem Keeper David de Gea ganz cool seinen Teil zum russischen Wunder bei. Das Luschniki erlebte eine erste Emotions-Eruption und feierte danach wieder russische Befreiungsschläge und Konteransätze wie Großchancen, denn es blieb bis zum Elfmeterschießen Russlands einziger Schuss aufs spanische Tor.

Messi, Ronaldo, Spanien

Akinfeew: "Ich denke, der Mann des Spiels sollte die Mannschaft sein. Oder die Fans."

Akinfeew: "Ich denke, der Mann des Spiels sollte die Mannschaft sein. Oder die Fans."

(Foto: imago/ITAR-TASS)

Das reichte, um Russlands Märchen weiterzuschreiben und nach den Weltstars Lionel Messi und Cristiano Ronaldo mit Spanien eine der nominell größten Teamattraktionen in der ersten K.-o.-Runde auszuknocken. Als einen "der schwierigsten Augenblicke in meinem Leben" beschrieb Spaniens Sergio Ramos die Leere nach dem Schluss. Interimstrainer Fernando Hierro, erst zwei Tage vor WM-Start vom Sportdirektor zum WM-Coach befördert, klagte: "In der Elfmeterlotterie fehlte uns das Glück." Vor Aspas war schon Koke an Akinfejew gescheitert. Überflüssig zu erwähnen, dass alle vier russischen Schützen trafen. Spaniens Keeper de Gea war zwar an zwei Schüssen dran, aber er hielt keinen. Das passte zur spanischen Tragödie im Luschniki, dessen berauschende Atmosphäre das eigentliche Highlight dieses Achtelfinales war.

Dass sich die russischen Fans bis zum Elfmeterschießen nicht längst heisergebrüllt und gesungen hatten, das war neben dem Weiterkommen der russischen Endorphinbomber und ihrer erneut absurden Laufleistung von 146 Kilometern das dritte Wunder dieses Spiels. "Das ist eine fantastische WM. Nicht nur unsere Fans, sondern alle Zuschauer spüren diese Atmosphäre", schwärmte Akinfejew später entrückt, stimmungstechnisch ist Russlands Weiterkommen zweifellos ein Gewinn für die WM. Und: "Die Fans sehen jetzt, dass wir Russen genau wissen, wie man Fußball spielt."

Oder besser: Wie man Fußball so kämpft, dass man nicht verliert. So klang es zumindest bei Dimitri Peskow durch, dem Sprecher von Präsident Wladimir Putin. Der hatte - womöglich in Erwartung eines spanischen Sieges diesmal nicht im Stadion geweilt und Tschertschessow auch nicht während der Pressekonferenz angerufen, aber "wie das ganze Land (...) von Anfang bis zum Ende das Spiel geschaut und unsere Jungs angefeuert", teilte Peskow mit. Und weiter: "Putin hat gesagt, das Wichtigste im Sport sei das Ergebnis, und dieses Ergebnis sei ein Sieg für unsere Sbornaja." Das war es. Das war ja das Wunder.

Quelle: ntv.de

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