Interview mit Gold-Gewinner Maennig "Bis zu 70 deutsche Medaillen? Das ist unrealistisch"
06.08.2016, 14:57 Uhr
Die deutsche Mannschaft ist nach denen der USA und Brasilien die größte in Rio.
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Auch diesmal werden keine Medaillenträume der deutschen Olympiamannschaft wahr, sagt Ruder-Goldgewinner Wolfgang Maennig. Der Wirtschaftswissenschaftler weiß, warum - und erklärt im n-tv.de Interview, weshalb die Sommerspiele schon jetzt hinter den Erwartungen zurückbleiben.
n-tv.de: Sie haben selbst an zwei Olympischen Spielen teilgenommen, 1988 im Ruder-Achter Gold in Seoul gewonnen. Was macht für Athleten den Reiz von Olympia aus?
Wolfgang Maennig: Vor allem, dass man mit anderen Sportarten zusammenkommt. Mit Sportlern aus aller Welt, die man sonst nie trifft und mit denen man jetzt zusammen in einem Olympischen Dorf wohnt. Das internationale Flair, dazu die Aufmerksamkeiten der Welt auch für Sportarten, die sonst nicht so im Fokus stehen. Und dadurch, dass es nur alle vier Jahre ist, sind auch die Wettkämpfe und Titel besonders wertvoll.
Das klingt nach Olympia als Karriere-Highlight. Viele Spitzengolfer haben dennoch freiwillig auf ihre Teilnahme in Rio verzichtet. Ist Golfstar Rory McIlroy ein Idiot, wie der deutsche Hockey-Kapitän Moritz Fürste sagt?

Wolfgang Maennig, geboren am 12. Februar 1960, ist Olympiasieger im Rudern von 1988 und Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Hamburg.
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Jeder Athlet sollte akzeptieren, wenn ein anderer Sportler sich gegen Olympia entscheidet. Ich kann aber durchaus verstehen, dass sich ein zweifacher Olympiasieger wie Moritz Fürste womöglich herabgesetzt fühlt, wenn einigen die Olympischen Spiele nicht gut genug sind. In einigen Sportarten ist es eben nicht das wichtigste Sportereignis. Golfen mag dazugehören.
Getrübt wird die allgemeine Olympia-Begeisterung auch durch die höchst umstrittene Entscheidung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Russland unter eigener Flagge starten zu lassen. Erleben wir Spiele des Misstrauens in Rio?
Ich bin sehr gespannt auf Siegerehrungen, wo russische Athleten gewinnen, ihre Nationalflagge gehisst wird und die russische Hymne ertönt. Dass ein gewisses Misstrauen da ist, wer will es der Weltöffentlichkeit übel nehmen? Wir werden sehen, wie die Zuschauer in Rio reagieren.
Hat das IOC eine historische Chance verpasst?
Ich denke, es wäre besser gewesen, Russland zu bestrafen - und nicht die russischen Athleten. Sie sind in meinen Augen mehr Opfer als Täter. Das erzählen Ihnen auch die ehemaligen Sportler aus der DDR: Man kann sich so einem Dopingunwesen nicht widersetzen. Hätten sie das gemacht, wären sie sofort rausgeflogen aus der Nationalmannschaft. Ein Start der russischen Sportler unter Olympischer Flagge wäre eine Möglichkeit gewesen. Weitergehende Sperren gegen russische Funktionäre und Geldstrafen, mit denen man den Anti-Dopingkampf hätte besser finanzieren können, hätten dies ergänzen können.
Wie bewerten Sie den Ausschluss von Whistleblowerin Julia Stepanowa, die das System aufgedeckt hat?
Es ist juristisch eine nachvollziehbare Ungerechtigkeit des IOC, formal mag das alles sauber sein. Ich finde trotzdem, man hätte sie starten lassen müssen. Aus dem ganz einfachen Grund: Man muss Anreize setzen für Whistleblower. Wo kriegen wir künftig Sportler her, die noch den Kronzeugen spielen, wenn sie dann anschließend trotzdem nicht starten dürfen?
Blicken wir auf Deutschland: In die Spiele 2012 war der DOSB mit der Zielvorgabe von 86 Medaillen gegangen, die mit 44 Medaillen grandios verfehlt wurde. Sie hatten die geringere Ausbeute damals schon vor den Spielen prognostiziert. Was wussten Sie, was der DOSB nicht weiß?
Die Sozialwissenschaftler haben seit einigen Jahren gezeigt, dass die Medaillenausbeute von Ländern stark von soziokökonomischen Faktoren geprägt wird: Wie groß die Nation ist, was ja entscheidend den Talentepool bestimmt. Wie hoch das Bruttosozialprodukt ist, auf welche Erfahrungen ein Land bei früheren Olympischen Spielen zurückblicken kann. Wenn man diese Indikatoren zusammenführt und gewichtet, lässt sich die Medaillenausbeute einzelner Nationen prognostizieren. Und das zumindest für die Top 20 erstaunlicherweise ziemlich zutreffend, wie man für Deutschland auch in London gesehen hat.
Wie viele deutsche Medaillen werden es diesmal?
Die Prognose ist, dass Deutschland wieder gut 40 Medaillen gewinnen wird - also weit weg von den 30 Prozent mehr, auf die man insgeheim hofft. Das steht Deutschland aufgrund seiner Größe einfach nicht zu. Wir müssen sogar davon ausgehen, dass wir auf den sechsten Platz im Medaillenspiegel hinter Japan zurückfallen werden.
Der deutsche Olympia-Sportchef Dirk Schimmelpfennig wünscht sich für Rio ein Ergebnis, das zeige, "dass wir uns nicht verschlechtert haben", was mit ihrer Prognose erfüllt wäre. Woher rührt die neue Bescheidenheit?
Der DOSB hat zwar gesagt, wir wollen 40 plus x Medaillen gewinnen, aber auch bis zu 70 Medaillen für möglich gehalten. Das ist unrealistisch, das werden wir nicht schaffen. Deutlich mehr als 40 Medaillen würden für ein überaus effizientes Spitzensportsystem sprechen, wie es die USA haben. Sie sind aber nicht zu erwarten.
Damit würde sich der Trend seit der Wiedervereinigung fortsetzen, dass die deutsche Medaillenausbeute bei Sommerspielen weiter sinkt oder höchstens stagniert. Wohin führt diese Entwicklung?
Um diesen Trend umzukehren, müsste man entweder die sozio-ökonomischen Determinanten beeinflussen, indem man zum Beispiel eine offensivere Familienpolitik betreibt und damit langfristig auch mehr Sporttalente bekommt. Oder aber man müsste ein sehr viel effizienteres Sportsystem einführen, so wie die Briten. Die haben 1996 eine einzige Goldmedaille gewonnen. Dann gab es, auch wegen der Heimspiele 2012, eine radikale Wende. In Rio könnte Großbritannien im Medaillenspiegel jetzt sogar Dritter werden hinter China und den USA. Man kann etwas erreichen durch Sportpolitik.
Auch in Deutschland?
Wir wollen den Spitzensport ja auch reformieren, das soll nach Rio anstehen. Ich bin da aber, sagen wir, verhalten optimistisch, dass es zu einer so fundamentalen Reform kommen wird, dass wir 30 Prozent mehr Medaillen gewinnen werden.
Gibt es denn Länder, die den sozialökonomischen Indikatoren trotzen?
Das sind insbesondere kleinere Länder wie Jamaika, wo eine Handvoll Athleten auf wundersame Weise viele Medaillen gewinnen. Manche mutmaßen Doping, aber wie auch immer: Hier sind sozialökonomische Vorhersagen weniger gut als ein einfaches "take the last ranking".
Ein Blick auf die Wettkämpfe hier in Rio: Wie sehr blutet Ihnen als ehemaliger Ruderer das Herz angesichts der Zustände im Kanu- und Ruderrevier, die genauso katastrophal sind wie bei den Seglern?
Ich bin schon gerudert auf diesem See, ohne Schutz. Wir sollten nicht zu sehr von oben auf andere Länder herabschauen. Auch bei uns, auch in unser Hauptstadt Berlin werden Abwässer direkt in die Spree geleitet. Die meisten wissen es nur nicht. Wenn es Olympische Spiele in Deutschland geben würde und der Triathlon in der Spree stattfinden sollte, würde sich der Rest der Welt über die gesundheitsgefährdende Wasserqualität mokieren. Und zu Recht!
Inwiefern erwarten Sie Beeinträchtigungen der Wettkämpfe?
Die befürchte ich nicht. Bakterien finden Sie auch in deutschen Gewässern, da muss sich kein Ruderer drüber Gedanken machen. Sportler haben ein sehr gutes Immunprofil, solange sie ihre Wettkämpfe noch nicht hinter sich haben.
Der Ruderachter, das deutsche Paradeboot, wurde nach dem Olympiasieg 2012 stark umgebaut. Welche Rolle wird er in Rio spielen?
Für mich ist er deutlicher Favorit, weil er in der Saison die konstantesten Leistungen gezeigt hat. Trainer Ralf Holtmeyer hat zudem die Gabe, in solchen kritischen Vorbereitungsphasen keine wesentlichen Fehler zu machen. Andere überziehen in einer Alles-oder-Nichts-Haltung. Zu beachten sind aber die Niederländer und die Briten. Und die USA und Kanada sind auch immer für eine Überraschung gut, das zeigen frühere Spiele.
Bei Olympischen Spielen schneidet traditionell der Gastgeber sehr gut ab. Wie lautet Ihre Prognose für Brasilien?
Wir haben errechnet, dass Brasilien unter den Top 20 den größten Sprung machen wird und sein Rekordergebnis von London mit 17 Medaillen deutlich auf über 30 steigern wird - das wäre der siebte Platz. Es gibt zwar Experten, die das angesichts der Leistungen brasilianischer Sportler in den vergangenen Jahren bezweifeln. Aber zumindest unsere sozioökonomischen Prognosen sagen das voraus.
Sie haben hier in Rio an einer Konferenz zur Nachhaltigkeit von sportlichen Großveranstaltungen teilgenommen. Wie lautet - abseits der positiven sportlichen Prognose - die Bilanz für die ersten Olympischen Spiele in Südamerika?
Es ist fair zu sagen, dass sich viele – wenn nicht sogar alle – noch mehr von diesen Spielen versprochen hatten. Die Welt, die Brasilianer und auch die Menschen aus Rio. Es sind nicht alle Erwartungen aufgegangen. Das wirkliche Erbe für Rio sollten aber ohnehin die Erinnerung an die Wettkämpfe selber sein. Wenn wir heute an die Spiele in München denken, denken wir vielleicht auch an die Olympia-U-Bahn. Aber wir denken vor allem an Höhepunkte wie die Siege von Heide Rosenthal oder Ulrike Meyfahrt.
Ist solch ein ideelles Erbe für ein Land wie Brasilien mit wirklich gravierenden wirtschaftlichen Problemen und einer ungeheuren sozialen Spaltung nicht zu wenig, angesichts der geschätzten Kosten von zwölf Milliarden Euro?
Ja, auch viele Leute in Rio sagen: Es war zu teuer. Deshalb war eine Empfehlung der Konferenz, mehr Flexibilität bei den Anforderungen an die Bewerberstädte zu zeigen und mehr Bescheidenheit zuzulassen. Wir sollten künftig die Bewerberstädte anhalten, vor Einreichung der Unterlagen die Bewerbung durch ein Referendum absegnen zu lassen und über mehr private Finanzierung nachzudenken. So entfiele das Argument von vornherein, das Geld hätte man besser für Schulen, Universitäten und Krankenhäuser ausgeben können.
Viele Kritiker bezeichnen die ersten Olympischen Sommerspiele in Südamerika schon jetzt als verpasste Chance. Stimmen Sie zu?
Mir ist es noch zu früh, das so generell zu sagen, ich bin optimistisch, dass sich die Stimmung deutlich bessert. Konsens ist aber, dass mehr drin gewesen wäre. Man hat längst nicht alles erreicht, was man hätte erreichen können. Aber wie sagen Spitzensportler: Wer alle seine Ziele erreicht, hat sich zu wenig vorgenommen!
Mit Wolfgang Maennig sprach Christoph Wolf
Quelle: ntv.de