Ringen ums olympische Überleben "Korruption war ein Riesenproblem"

Denis Kudla bei seinem Kampf um Platz drei gegen Viktor Lorincz - er gewann.

Denis Kudla bei seinem Kampf um Platz drei gegen Viktor Lorincz - er gewann.

(Foto: imago/Eibner)

Als erster Deutscher wird Antonio Silvestri im Jahr 2015 zum Kampfrichterchef des Ringer-Weltverbands berufen. Der kämpfte nicht nur lange mit einem massiven Imageproblem wegen korrupter Kampfurteile, sondern ringt in Rio de Janeiro auch um seinen Verbleib im Olympia-Programm. Den vorläufigen Rauswurf durch das IOC 2013 empfand Silvestri als "Schock", aber auch als Chance für eine Neuaufstellung. Im Interview mit n-tv.de erklärt der 43-Jährige, warum die Traditionssportart Ringen heutzutage vielen Außenstehenden aus der Zeit gefallen scheint.

Ringen in Rio ist auch ein Ringen ums olympische Überleben. Wie sehr trifft das Hickhack im Dopingfall um den Inder Narsingh Yagav Ihren Sport?

Antonio Silvestri: Hilfreich ist es ganz sicher nicht. Der Sport hat mit der Dopingproblematik weltweit sehr gelitten, das sieht man auch in Deutschland. Wir Funktionäre sind in der Pflicht, wieder Glaubwürdigkeit herzustellen. Dazu gehört auch ein konsequenter Kampf gegen Doping.

Wie groß ist das Dopingproblem in Ihrem Sport?

Wir haben als internationaler Verband der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada einen internationalen Testpool gemeldet, wo alle erfolgreichen Ringer aufgelistet sind. Wir setzen auf Aufklärung und strenge Kontrollen. Als Kampfrichterverantwortlicher kann ich zu diesem Zeitpunkt leider keine Aussage zu konkreten Fällen treffen, da wir kaum Einblick in die tatsächlichen Strukturen im jeweiligen Umfeld des Sportlers haben. Wir sind aber streng angehalten, Auffälligkeiten direkt zu melden.

Von vielen Verbänden wurden russische Athleten nach dem IOC-Entscheid einfach nach Rio durchgewinkt. Wie ist Ihr Verband mit dieser Problematik umgegangen?

Die russischen Ringer wurden sehr intensiv überprüft. Es gab eine eigene Kommission unseres Weltverbandes. Die hat die protokollierten Dopingtests genau geprüft und dann für jeden Sportler entschieden. Es wäre für die Zukunft des Ringens fatal, wenn wir das Thema Doping nicht ernsthaft angehen.

Als das IOC Ringen am 12. Februar 2013 aus dem Olympia-Programm gestrichen hat, ist auch für viele Nicht-Ringer ein Teil der olympischen Idee gestorben. Für Sie auch?

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(Foto: dpa)

Ja, natürlich. Das war ein Schock. Insbesondere, weil ich London so gut in Erinnerung hatte. Dort haben wir alle ein positives Feedback bekommen. Und dann kam dieser K.o. aus heiterem Himmel. Wir wussten immer, dass der griechisch-römische Stil auf dem Prüfstand steht. Aber dass die ganzen Ringerwettbewerbe gestrichen werden? Damals ist schon ein Traum zerbrochen.

Das IOC hat seine Entscheidung insofern revidiert, dass Ringen bis 2024 auf Bewährung im Programm bleibt. Wie fühlt sich das an für einen Sport, der sogar in der olympischen Hymne erwähnt wird?

Das ist natürlich sehr hart. Aber es ist auch eine neue Chance für uns, die wir, glaube ich, gut genutzt haben. So einen Rausschmiss zu erfahren, bedeutet auch die Möglichkeit, umzusteuern, neue Maßnahmen zu ergreifen.

Die Kritik nicht nur vom IOC war vielfältig: Teilweise statische, dafür brutale Kämpfe, schwer zu verstehende Wertungen. Wo fängt man da an?

Das war auch absolut berechtigt. Ich hatte schon in Deutschland als Kampfrichter immer wieder Vorschläge ausgearbeitet, damit Ringen attraktiver wird, einfach verständlicher. Unser Problem ist: Ringen ist ein sehr komplexer Sport, nicht nur für Zuschauer. Selbst Fachleute wussten teilweise nicht mehr, was Sache ist, wenn sie in die Halle kamen. Wenn das so ist, kann etwas am System nicht stimmen.

Wie löst man so ein gravierendes Problem?

Eine Kernfrage ist: Wie kann man die Aktionen auf der Matte verbessern, damit wieder mehr gerungen wird? Ein ganz wichtiger Punkt dabei ist: Automatismen abschaffen. Also: Aktivität belohnen und dieses unattraktive defensive Ringen bestrafen. Auch die Wertungen im griechisch-römischen Stil und im Freistil waren lange gleich, das wurde angepasst. Im Freistil gibt es jetzt Angriffszeiten, ähnlich wie im Basketball. Im griechisch-römischen Stil wurden die Bewertungen erhöht, es gibt mehr Punkte für Aktionen. Und siehe da: Plötzlich gingen die Kämpfe nicht mehr 1:0 aus, sondern 22:20.

In Rio merkt man bei den Wettkämpfen: Ringen begeistert die Zuschauer in der Halle. Warum lässt sich das so schwer ins Fernsehen transportieren, was für das kommerzorientierte IOC ein zentraler Punkt ist?

Erstens weil unsere Würfe, unsere Techniken sehr vielseitig sind, anders als zum Beispiel im Judo. Das zu vermitteln ist einfach sehr schwierig. Das müssen wir in Zukunft noch verständlicher machen. Meine Idee ist, dass wir es auf drei, vier Kategorien runterbrechen: Würfe, den Gegner zu Boden bringen, ihn aus dem Kreis drängen. Das könnte auch jeder vorm Fernseher verstehen.

Waren auch attraktivere Anzüge ein Reformthema?

Ja, das haben wir in Rio schon umgesetzt. Früher waren sie immer klassisch rot und blau. Jetzt sind wir schon soweit, dass die Nationenfarben mehr reinkommen. Das ist ganz wichtig für junge Leute, für Kinder, damit sie vielleicht auch mal von der Großmutter ein Trikot geschenkt bekommen.

Sind sie manchmal neidisch auf das TV-Phänomen Darts?

Das ist schon der Wahnsinn, was sich da entwickelt hat. Aber drei Pfeile, eine Scheibe, soweit können wir Ringen nicht vereinfachen.

Kritisiert wurden früher auch fehlende Emotionen nach Kämpfen. In Rio wurden Medaillen ausgiebig gefeiert. Haben Sie den Ringern olympischen Jubel verordnet?

Das Problem waren gar nicht die Ringer, sondern die Kampfrichter. Die hatten die Vorstellung: Der Ringer muss immer sauber bleiben, sie haben Jubel einfach unterbunden. Da hat einer einen Riesenkampf gemacht, wollte feiern, aber der Kampfrichter hat sofort gesagt: Komm her zur Siegerverkündung. Da wurden die Trainer weggeschickt, da wurden die Fahnen weggetan. Für Rio habe ich ihnen explizit gesagt: Einer trainiert vier Jahre lang für Olympia als Höhepunkt, lasst ihm doch seine Show, mindestens 20, 30 Sekunden. Ich glaube, das ist sehr gut angekommen beim Publikum und auch bei den Athleten.

Viele Urteile umwehte jahrelang der Verdacht der Korruption, wie es im Boxen in Rio immer noch der Fall ist - ein Thema, das sie bei Ihrer Berufung zum Kampfrichterchef des Weltverbandes 2015 explizit angehen sollten. Wie groß war das Problem?

Es war alles verkrustet, es gab überhaupt keine richtigen Strukturen im Kampfrichterwesen, die Korruption war im Ringen ein Riesenproblem. Da gab es Zugeständnisse, vorherige Absprachen wie in anderen Sportarten auch, völlig willkürliche Urteile und auch bange Blick auf die Tribüne, bevor eine Wertung angezeigt wurde. Das war ein ganz schlechtes Bild für den Ringkampf insgesamt.

Bis zu den Spielen in Rio blieb Ihnen nur ein Jahr Zeit. Was kann man da an Reformen umsetzen?

Ein ganz wichtiger Punkt war: Wir müssen unsere Kampfrichter wieder schulen, es gab gar keine Weiterbildungsmaßnahmen mehr. Da mussten wir erst Strukturen reinbringen. Ich habe auch allen meinen Kampfrichtern klargemacht: Wenn ihr fehlerhaft entscheidet, schadet das dem Image des Sports.

Entschuldigung, aber ist das nicht eine Selbstverständlichkeit?

Natürlich sollte es das sein. Aber der Druck und die Beeinflussung für die Kampfrichter waren enorm. Die Präsidenten der nationalen Verbände durften immer im Innenraum dabei sein und hatten direkten Zugriff auf die Kampfrichter. Die haben dann auch untereinander gesagt: Hey, jetzt ringt meine Nation! Denk dran, ich bin nachher bei deiner Nation dran. Vor Olympia haben wir noch vier, fünf Kampfrichter suspendiert. Hier in Rio erfahren die Kampfrichter erst kurz vor einem Kampf, ob sie eingesetzt werden. Außerdem schirmen wir sie während der Wettkämpfe konsequent ab. Die Verbände haben jetzt keinen Zugang mehr zum Innenraum. Dazu gehört auch ein Handyverbot. Das wird jeden Tag kontrolliert.

Wie kam das bei den Kampfrichtern an?

Die waren erst schockiert, jeder möchte doch ein schönes Bildchen nehmen. Aber es herrscht eine große Disziplin, das zeigen die Kontrollen. Insgesamt hat sich auch ein ganz anderes Selbstbewusstsein aufgebaut. Früher hatten Kampfrichter vor großen Kämpfen wie Russland gegen Aserbaidschan oder USA gegen Iran oft Angst. Inzwischen ist es ein Ansporn für die Kampfrichter, solche Highlights pfeifen zu dürfen. Sie sagen zu mir: Gib mir den Kampf, ich mach ihn.

Hatten diese ersten Reformschritte in Rio auch Auswirkungen auf den Medaillenspiegel?

Auf jeden Fall. Man sieht hier, die Medaillen werden auf viele Länder verteilt. Es dominieren nicht mehr nur die Ostblockstaaten. Am ersten Tag gab es acht Medaillen für acht verschiedene Nationen. Das ist toll.

Aus deutscher Sicht gab es in Rio Überraschungsbronze für Denis Kudla, ein Drama um Frank Stäbler und eine verpasste historische Chance durch Maria Selmeier. Zufriedenstellend?

Wir hatten mit ein, zwei Medaillen gerechnet. Auf Bronze von Denis Kudla können wir sehr stolz sein. Frank Stäbler war ein heißer Kandidat, dann ist er kurz vor den Wettkämpfen von einer schweren Verletzung rausgerissen worden. Es ist brutal, dass er hier überhaupt gekämpft hat. Jeder andere hätte aufgegeben. Der Junge tut mir leid. Vollen Respekt für diese enorme Leistung trotz schwerer Verletzung.

Rio hat nicht nur IOC-Präsident Thomas Bach Wettkämpfe besucht, sondern auch die schwedische Königin. Wie wichtig ist solch prominenter Besuch mit Blick auf die Zukunft?

Natürlich ganz wichtig, für die Wertschätzung und die Außendarstellung unseres Sports. Aber auch dafür, dass sie einfach selber die Faszination des Ringens erkennen. Dass beim Besuch von Thomas Bach fast alle Kämpfe in den letzten 30 Sekunden entschieden wurden, war super. In der Halle bekommt man einen ganz anderen Blick aufs Ringen. Das ist aber in allen Sportarten so.

Wie geht es nach den Spielen mit Ringen und Olympia weiter?

In Rio gab es viel positives Feedback vom IOC. Alle Reformen, die der Weltverband versprochen hat, sind umgesetzt worden. Wir wissen, dass wir einen guten Start hingelegt haben. Aber wird sind noch lange nicht am Ziel.

Mit Antonio Silvestri sprach Christoph Wolf

Quelle: ntv.de

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