Gemischte Signale vom Jobmarkt Das dicke Brexit-Ende kommt
18.11.2016, 19:40 Uhr
Berufsverkehr vor der Skyline von London.
(Foto: REUTERS)
London triumphiert. Keine Spur von Kollaps nach dem Brexit-Votum. Der britische Arbeitsmarkt boomt - zumindest auf den ersten Blick. Doch die Aussichten sind düster.
Als der britische Arbeitsminister Damian Hinds diese Woche die offiziellen Jobdaten zu sehen bekam, ist ihm sicherlich ein Stein vom Herzen gefallen. Der Arbeitsmarkt in Großbriannien boomt. Rund 32 Millionen Menschen sind nach dem Referendum weiter in Lohn und Brot - 460.000 mehr als im Jahr zuvor. Trotz des Votums der Bürger für einen Austritt aus der EU lag die Arbeitslosenquote für die Zeit von Juli bis September bei 4,8 Prozent - der tiefste Stand seit rund elf Jahren.
Auch die steigenden Gehälter haben die Brexit-Befürworter sicherlich mit Genugtuung registriert. Einschließlich Prämien kletterten sie zwischen Juli und September zum Vorjahr um 2,3 Prozent. Die Zahlen würden die "Zuverlässigkeit des britischen Arbeitsmarktes unterstreichen", freute sich Hinds.
Der britische Arbeitsmarkt halte seinen Widerstand gegen den Brexit-Schock aufrecht, kommentierte der Ökonom Ben Brettell vom größten Broker des Landes, Hargreaves Lansdown. Die Lage scheint auf den ersten Blick deutlich besser, als von vielen nach dem Referendum erwartet. Also alles halb so wild?
Sieht man genauer hin, offenbaren andere Zahlen, dass sich die Lage schon sehr bald verschlechtern dürfte. Diese Indikatoren halten Ökonomen in der Übergangszeit sogar für aussagekräftiger. So hat sich das Stellenwachstum in den drei Berichtsmonaten mit 49.000 deutlich verlangsamt. Es ist der schwächste Zuwachs seit einem halben Jahr.
Ruhe vor dem Sturm?
Ein weiteres Indiz dafür, dass Großbritannien bereits bremst, ist die wachsende Zahl der Menschen mit Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. Nach einer nationalen Berechnung gab es im Oktober 9800 Anträge mehr. Bankvolkswirte hatten lediglich mit einem Anstieg von 2000 gerechnet. Gleichzeitig wurde der Zuwachs im Vormonat von 700 auf 5600 korrigiert. Der Kollaps mag nach dem Referendum ausgeblieben sein, ruhiges Fahrwasser sieht jedoch anders aus.
Die aktuelle Arbeitslosenquote in Großbritannien ist nur bedingt aussagekräftig. In den vergangenen Jahren ist sie vor allem dank eines robusten Wirtschaftswachstums gesunken. Dieser Wachstumsschub wird abrupt enden, wenn der Brexit vollzogen ist.
Erfahrungsgemäß hinken Jobdaten anderen Wirtschaftsdaten auch hinterher. "Der Anstieg der Anträge auf Arbeitslosenhilfe nimmt der guten Nachricht - der Arbeitslosenquote - den Glanz, wenn sie sie nicht so sogar zunichte machen", sagte David Cheetham von der Handelsplattform XTB.com dem "Guardian".
"Sturmwolken könnten sich am Horizont auftürmen", räumt auch Brettell gegenüber der Zeitung ein. Zumal die Daten für die Anträge auf Arbeitslosenhilfe aktueller seien als die Arbeitslosenzahlen. Sehr wahrscheinlich würden die Arbeitslosenzahlen in den kommenden Monaten anziehen.
Die meisten Experten erwarten, dass die britische Wirtschaft im kommenden Jahr in die Rezession abrutschen wird. Die Inflation wird nach ihrer Ansicht in den kommenden Monaten anziehen und vermutlich Lohnerhöhungen zunichtemachen. Den Menschen wird es schlechter gehen. Analyst Howard Archer von IHS Markit rechnet wegen der wachsenden Unsicherheiten für die britische Wirtschaft und den Arbeitsmarkt bis Ende des Jahres mit einer Arbeitslosenquote von 5,5 Prozent.
"Null-Stunden-Verträge" boomen
Dass der Arbeitsmarkt bereits angeschlagen ist, macht auch noch eine weitere Zahl deutlich: Viele der neu geschaffenen Jobs sind unsichere Teilzeit- oder Freiberuflerstellen. Ende vergangenen Jahres arbeiteten mehr als 800.000 Briten unter "Null-Stunden-Verträgen", hierbei garantieren Arbeitgeber ihren Angestellten keine Arbeitszeiten. Schrumpft das Wachstum - wovon Ökonomen ausgehen - sind genau diese Jobs weg.
Laut "Guardian" arbeiten 7,1 Millionen Menschen, das ist jeder fünfte Arbeiter in Großbritannien, in solch prekären Arbeitsverhältnissen. Das Blatt beschreibt die dramatisch steigende Zahl der "Null-Stunden-Verträge" bei Pflegepersonal. Offiziellen Zahlen zufolge ist hier jeder siebte Pfleger betroffen, es war einmal jeder zehnte.
Keiner weiß, wie es in Großbritannien weitergeht. Und die Unsicherheit wird zunehmen. Das jüngste Urteil des High Court zögert die Auslösung des Artikels 50 noch weiter hinaus. Anfang des Monats hatten die Richter entschieden, dass die Premierministerin für diesen Schritt die Zustimmung des Parlaments benötigt.
"Erst dampfen Unternehmen ihre Investitionen ein, dann verschwinden die Jobs", prognostiziert der unabhängige Thinktank Fathoom Consulting: "Die Ungewissheit wird Monate, wenn nicht Jahre anhalten." Das Schlimmste steht Großbritannien deshalb noch bevor.
Quelle: ntv.de