Tarifexperte zum Bahnstreik "Habe nie einen Tarifkonflikt gesehen, wo der Karren so tief im Dreck steckte"
12.03.2024, 15:19 Uhr Artikel anhören
GDL-Chef Weselsky wolle zum Ende seiner Amtszeit "einen möglichst spektakulären Erfolg, offenbar ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen", sagt Arbeitsmarkt-Ökonom Schnabel.
(Foto: picture alliance/dpa)
Arbeitskämpfe hätten immer eine große psychologische Komponente, sagt der Ökonom Claus Schnabel. Der aktuelle Tarifstreit zwischen Bahn und Lokführergewerkschaft GDL geht aber über alles hinaus, was der Tarifexperte bisher erlebt hat. Für die Bahn sieht er keinen guten Ausweg mehr.
ntv.de: Nach dem, was öffentlich bekannt ist, liegen das jüngste Angebot der Bahn und die Forderungen der Lokführergewerkschaft GDL nicht mehr weit auseinander. Wieso eskaliert der Tarifstreit jetzt?
Claus Schnabel: Tatsächlich sind die Positionen nicht mehr weit voneinander entfernt. Knackpunkt aus Sicht der Gewerkschaft ist offenbar die von der Bahn angebotene Wochenarbeitszeit von 36 Stunden, statt der geforderten 35-Stundenwoche für Schichtarbeiter. Jede andere Gewerkschaft würde in dieser Situation wohl sagen: "Wow! Was für ein Riesenerfolg auf dem Weg zu unserem Ziel!" Dieses Ziel wäre für die nächsten Tarifrunden in greifbare Nähe gerückt. Historisch wurden solche Durchbrüche wie die 35-Stundenwoche nie auf einen Schlag durchgesetzt, sondern wie zum Beispiel in der Metallindustrie über Jahre erkämpft. Für GDL-Chef Claus Weselsky ist ein solcher, großer Zwischenschritt aber nicht genug, er will offenbar jetzt, sofort den kompletten Sieg.
Sie haben den Eindruck, dass diese Eskalation des Tarifstreits vor allem mit der Person Weselsky zusammenhängt?
Ich habe in den vergangenen Jahrzehnten viele Gewerkschaftsführer erlebt. Franz Steinkühler etwa, der den Kampf für die Durchsetzung der 35-Stundenwoche in der Metallindustrie anführte. Der war sehr engagiert, manchmal durchaus auch aggressiv, betrachtete die andere Seite dabei aber als Gegner, nicht als Feind. Weselsky vermittelt einen anderen Eindruck. Da geht es offenbar - auf beiden Seiten - auch um persönliche Verletzungen aus der Vergangenheit. Für Weselsky ist es ja auch die letzte Tarifrunde, sein Endspiel als Gewerkschaftschef. Da will er sich wohl ein Denkmal setzen.
Die Debatte wird nicht nur zwischen den Tarifparteien sehr hart geführt, sondern auch in der Öffentlichkeit. Weselsky ist für manche zu einer Hassfigur geworden. Lokführer werden etwa in den sozialen Netzwerken beschimpft. Nimmt die Gewerkschaft wahr, dass sie die Sympathie der Öffentlichkeit verliert. Ist das den Lokführern egal?

Claus Schnabel ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen Schwerpunkten gehören unter anderem Gewerkschaften und Tarifpolitik.
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Den Lokführern ist das bestimmt nicht egal. Die sind teils schockiert. Aber die GDL erntet nun das, was sie selbst gesät hat. Weselsky hat die Auseinandersetzung ja auf diese persönliche, verletzende Ebene getragen, als er etwa den Bahnvorstand als "Nieten in Nadelstreifen" beschimpft hat.
Es geht in der öffentlichen Debatte ja nicht nur um Sympathien. Der GDL-Streik hat Forderungen nach gesetzlichen Einschränkungen des Streikrechts ausgelöst, zum Beispiel für Beschäftigte bei besonders wichtigen Infrastruktur-Unternehmen wie eben der Bahn. Sägt die GDL mit ihrem harten Kurs am eigenen Ast, was mögliche Tarifrunden in der Zukunft angeht?
Würde die GDL langfristig strategisch denken, würde sie genau das berücksichtigen. Hier muss man zwischen den Interessen der Gewerkschaft und ihres Chefs unterscheiden. Weselsky will zum Ende seiner Amtszeit jetzt einen möglichst spektakulären Erfolg, offenbar ohne Rücksicht auf die langfristigen Folgen. Das sehen natürlich auch andere Gewerkschaften äußerst kritisch, weswegen deren Solidarität mit der GDL diesmal eher begrenzt ist.
Schauen wir einmal auf das Agieren der anderen Seite. Schätzungen zufolge ist der Schaden durch die Streiks dieser Tarifrunde bereits größer, als es die Kosten für die kommenden Jahre wären, wenn die Bahn alle Forderungen der GDL erfüllen würde. Wäre es aus Sicht der Bahn nicht rational, einfach nachzugeben?
Solche Berechnungen halte ich für schwierig. Ihr Ergebnis hängt auch von der Laufzeit des Tarifvertrags ab, und die ist ja auch strittig. Langfristig sind die Kosten für so weitgehende Forderungen wohl sehr hoch. Grundsätzlich ist die Bahn in einer sehr schwierigen Situation, unter anderem weil sie ja nicht nur mit der GDL, sondern auch mit der konkurrierenden Gewerkschaft EVG verhandeln muss. Ein komplettes Nachgeben bei allen Forderungen wäre ein Dammbruch - eine Art Einladung an alle Gewerkschaften, künftig ebenso radikal aufzutreten.
Welche Mittel hat die Bahn, das zu verhindern? Sitzt die GDL nicht mit ihrer Streikmacht am längeren Hebel?
Das stimmt. Eigentlich hat die GDL mit ihrer kompromisslosen Haltung schon gewonnen. Für die Bahn gibt es wohl keinen guten Ausweg mehr aus dieser Situation. Ich habe noch nie einen Tarifkonflikt gesehen, wo der Karren so tief in den Dreck gefahren war.
Spräche das nicht dafür, die Wünsche der GDL schnell zu erfüllen? Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende?
Auch wenn das Machtverhältnis eindeutig für die GDL spricht: Als Ausweg aus diesem Streit muss eine gesichtswahrende Lösung gefunden werden. Das ist auch für die Bahn wichtig. Deren Verhandlungsführer müssen das Unternehmen ja auch in weiteren Tarifrunden glaubwürdig vertreten können. Ein Ansatzpunkt könnte eine Schlichtung mit einem Schlichtungsspruch sein, dem sich beide Seiten dann zähneknirschend, aber gesichtswahrend beugen.
Offensichtlich ist in diesem Konflikt ein großes Maß an Emotion und Psychologie im Spiel. Wie wichtig sind psychologische Aspekte gegenüber kühler Berechnung von finanziellen Kosten und Nutzen in Tarifauseinandersetzungen?
Arbeitskämpfe sind immer in hohem Maße psychologische Auseinandersetzungen. Ein wichtiger Aspekt für beide Seiten ist es, die öffentliche Meinung auf die eigene Seite zu ziehen. Vor allem aber gilt es für die Verhandlungsführer, gegenüber den eigenen Mitgliedern zu demonstrieren, dass man hart verhandelt und alles herausgeholt hat, was möglich ist. Deswegen enden Tarifverhandlungen oft erst nach Marathonsitzungen tief in der Nacht, auch wenn der am Ende verkündete Kompromiss schon früher absehbar war.
Mit Claus Schnabel sprach Max Borowski
Quelle: ntv.de