Krankenstand in Deutschland Karenztage retten die deutsche Wirtschaft auch nicht


Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland 2023 durchschnittlich 15,1 Arbeitstage krankgemeldet.
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Arbeitnehmer bekommen in Deutschland vom ersten Tag ihrer Krankheit an Geld. Das passt Allianz-Chef Bäte nicht. Laut Arbeitsmarktexperte Enzo Weber kann das nicht die Lösung sein, um den Krankenstand zu senken. Vor allem, wenn Kollegen in die Bresche springen.
Der Krankenstand in Deutschland ist hoch. Das hat Allianz-Chef Oliver Bäte zu einem unpopulären Vorschlag bewogen. Für ihn sind die Fehltage auch ein Kostenproblem. Er fordert deshalb, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen. Damit würden die Arbeitnehmer die Kosten selbst tragen und Arbeitgeber entlastet.
In der Bundesrepublik gilt - anders als in einigen anderen Ländern - seit Jahrzehnten die Lohnfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag. Das ist nicht ungewöhnlich. "Die Idee von Karenztagen ist ein altbekanntes Konzept", sagt Arbeitsmarktexperte Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Gespräch mit ntv.de.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland 2023 durchschnittlich 15,1 Arbeitstage krankgemeldet. Die Krankenkasse DAK-Gesundheit weist für 2023 sogar einen noch höheren Durchschnittswert aus: Demnach hatte weit über die Hälfte der DAK-Versicherten von Januar bis Dezember 2023 mindestens eine Krankschreibung. Im Gesamtjahr waren es laut DAK im Durchschnitt 20 Fehltage pro Kopf. Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigen hingegen keinen dramatischen Anstieg der Fehlzeiten in Deutschland, weder im Vergleich mit anderen EU-Staaten noch im Zeitverlauf.
Der Vorschlag von Allianz-Chef Oliver Bäte basiere auf dem falschen Eindruck, der Krankenstand würde in Deutschland auf ein Rekordniveau steigen, sagt Weber. Er gibt zu bedenken: "Es deutet im Moment einiges darauf hin, dass in der Statistik jetzt Krankmeldungen auftauchen, die wir vorher nicht gesehen haben." Zum einen sind die Hürden durch die telefonische Krankmeldung niedriger und seit 2022 werden die Krankschreibungen mittlerweile von den Arztpraxen elektronisch an die Krankenkassen übermittelt. "Die Diskussion darüber, wie wir mit Krankheit von Beschäftigten umgehen sollen, kann man führen, aber es gibt keinen akuten Druck der Zahlen. Es deutet vieles darauf hin, dass der Sprung nach oben beim Krankenstand ein Phänomen der Erfassung ist."
Mehr Arbeit für gesunde Mitarbeiter
Was nichts daran ändert: Krankentage sind Arbeitsausfall. Bei Krankheit wird nicht gearbeitet, stattdessen fallen Kosten im Gesundheitssystem an und weniger Wohlstand wird erwirtschaftet. "Natürlich ist das rein finanziell eine Belastung", sagt Weber. Momentan herrscht in Deutschland laut IAB-Arbeitszeitrechnung ein Krankenstand von rund sechs Prozent. "Das ist schon eine wirtschaftlich relevante Größe. Das BIP sinkt deswegen aber nicht gleich eins zu eins auch um sechs Prozent." Vieles werde im Betriebsalltag aufgefangen.
Zur Wahrheit gehört nämlich auch: Wenn Arbeitnehmer ausfallen, besteht laut Weber immer noch die Möglichkeit, Aufgaben umzuschichten. Etwa, indem Kollegen einspringen. Das dämpft den Effekt auf das BIP. Der Kölner Arbeitsmarktexperte Alexander Sperrmann gibt auf Anfrage von ntv.de noch zu bedenken: "Dass der Trend zu mehr Krankheitstagen gebrochen wird, ist auch im Interesse der Arbeitnehmer, die für krank gewordene Kollegen einspringen müssen. Wenn Mehrarbeit der gesunden Arbeitnehmer zum Regelfall wird, sind negative Effekte auf Gesundheit und Motivation zu erwarten." Die Einführung von Karenztagen ist aber auch seiner Einschätzung zufolge kein Allheilmittel, weil alle Arbeitnehmer – unabhängig von der Schwere der Krankheit – auf die Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber am Karenztag verzichten müssen.
Da eine Welt, in der Arbeitnehmer nicht krank werden, nicht existiert, grenzt es für den Arbeitsmarktforscher nahezu an "Sinnlosigkeit zu rechnen, was uns Krankheit kostet." Weber sieht bei der Diskussion um Karenztage noch ein anderes Problem: "Der Arbeitnehmer weiß mehr über seinen Gesundheitszustand als der Arbeitgeber und die Versicherung." Die Entscheidung für eine Lohnfortzahlung führe zwar dazu, dass Unternehmen in manchen Fällen Blaumachern volles Gehalt zahlen. Ein Karenztag ohne Lohnfortzahlung bedeute aber, dass Menschen, die tatsächlich krank sind, dann kein Geld bekommen.
"Wenn man vermutet, Arbeitnehmer bleiben absichtlich von der Arbeit fern, dann kann man der Krankmeldung Nachteile auferlegen, die abschrecken. Ein Karenztag ist eine Möglichkeit", sagt Weber. Arbeitgeber hätten darüber hinaus aber auch noch andere Optionen, etwa eine Attestpflicht ab dem ersten Tag. Dazu sind Arbeitgeber in Deutschland bereits berechtigt.
IG Metall: unverschämt und fatal
Auch inzwischen immer kritischer gesehene Homeoffice-Regelungen können laut Sperrmann von der FOM Hochschule Köln tendenziell zu weniger Krankmeldungen führen, weil Arbeitnehmer zu Hause weniger in Kontakt mit Krankheitserregern kommen als im Büro. Auch könnten viele Arbeitnehmer im Homeoffice eher bereit sein, schneller wieder Arbeit aufzunehmen. "Es besteht sogar die Gefahr, dass Arbeitnehmer zu Hause weiterarbeiten, obwohl sie krank sind. Das ist nicht wünschenswert", sagt Sperrmann.
Karenztage oder ein Attest ab dem ersten Krankentag würden laut Weber zwar wahrscheinlich in der Summe zu weniger Krankentagen führen. "Aber man handelt sich damit auch erhebliche Nachteile ein." So würden nicht nur kranke Menschen benachteiligt, sondern es führe auch dazu, dass kranke Menschen, die besser der Arbeit fernbleiben, dann doch arbeiten - und Kollegen anstecken. "Es lohnt sich in jedem Fall, ein offenes Gespräch zu suchen. Nötigenfalls kann man ein Attest ab dem ersten Tag einfordern. Eine Einzelfallbehandlung ist immer sehr viel gezielter als eine gesetzliche Regelung", rät der Arbeitsmarktexperte.
Quelle: ntv.de