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Schatzkammer im Kriegsgebiet Ukraine soll Gasspeicher für die EU werden

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Allein in Bilche kann mehr als viermal so viel Gas gespeichert werden wie in Deutschlands größtem Speicher in Rehden.

Allein in Bilche kann mehr als viermal so viel Gas gespeichert werden wie in Deutschlands größtem Speicher in Rehden.

(Foto: imago images/Ukrinform)

Die Gasspeicher in der EU sind schon fast voll. Deshalb will Brüssel nun eine strategische Gas-Reserve in der Ukraine anlegen - auch wenn dort Bomben und Raketen fliegen. Denn Europas Energieversorgung steht spätestens im kommenden Jahr ein weiterer Härtetest bevor.

Dass sich die europäische Öffentlichkeit einmal für diese Ansammlung aus Röhren und Pumpen interessieren würde, die sich etwa 100 Kilometer östlich der polnischen Grenze, nahe dem kleinen ukrainischen Dorf Bilche im Wald versteckt, hätte bis vor Kurzem wohl kaum jemand gedacht. Doch was hier Hunderte Meter unter der Erde in einem leergeförderten Gasfeld schlummert, könnte schon bald zur Schatzkammer der EU werden: der größte Gasspeicher Europas, 17 Milliarden Kubikmeter groß. Zum Vergleich: Deutschlands größter Speicher fasst knapp 4 Milliarden Kubikmeter.

Die EU-Länder sind derzeit in einer ungewöhnlichen Lage: Auf dem Gasmarkt herrscht nicht Mangel, sondern ein Überangebot, insbesondere an Flüssiggas. Die Speicher hierzulande sind inzwischen so voll, dass schon bald kein Platz mehr ist. Laut Bloomberg könnten die Anlagen bereits im September an ihre Grenzen kommen. Brüssel hat deshalb einen Plan, um sich für eine etwaige Gaskrise im Winter zu wappnen: es in der Ukraine einzulagern, mitten im Kriegsgebiet.

Denn während die hiesigen Speicher laut dem Verband europäischer Fernleitungsbetreiber für Gas (ENTSOG) bereits zu rund 74 Prozent gefüllt sind, in Deutschland sogar zu rund 79 Prozent, ist in der Ukraine noch reichlich Platz. Hier liegt der Füllstand bei gerade mal knapp 20 Prozent. Insgesamt 12 unterirdische Speicher wie in Bilche betreibt der staatliche ukrainische Gaskonzern Naftogaz. Das Land hat laut dem Industrieverband Gas Infrastructure Europe (GIE) mit 320 Terawattstunden die größten Lagerkapazitäten in ganz Europa - deutlich größer als die Speicher in Deutschland (250 Terawattstunden), Italien (195 Terawattstunden), den Niederlanden (142 Terawattstunden) oder Frankreich (131 Terawattstunden).

Schatzkammer mitten im Kriegsgebiet

Ein Drittel davon will Naftogaz EU-Ländern zur Verfügung stellen. Damit würden sich Europas Lagerkapazitäten um fast zehn Prozent vergrößern. Aufgrund der historischen Rolle der Ukraine als Transitland für russisches Gas sind die Speicher logistisch gut angebunden und aus der EU einfach zu erreichen. Zudem bietet Naftogaz einen günstigen Festpreis für die Einlagerung an.

Doch weil Versicherungsunternehmen angesichts des Krieges derzeit einen großen Bogen um die Ukraine machen, bleiben die Gashändler bislang trotzdem fern. Denn auch wenn 80 Prozent der Speicher kilometertief unter der Erde und an der westlichen Grenze zu Polen liegen, wo verhältnismäßig wenige russische Raketen, Marschflugkörper und Drohnen einschlagen: Eine Gaslagerstätte in einem aktiven Kriegsgebiet bleibt ein Hochrisikoziel.

Staatliche Risikogarantien sind daher entscheidend. Laut "Financial Times" führt die EU-Kommission dazu bereits Gespräche mit Banken wie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD). Man spreche mit Regierungen und Finanzinstitutionen, um eine "adäquate Versicherungsdeckung" zu erreichen und die "Risikoprämien mit Bezug auf die Situation in der Ukraine zu senken", zitiert die FT einen Kommissionsbeamten.

Der Crashtest für den Gasmarkt kommt 2024

Die Lagerstätten in der Ukraine wären eine willkommene strategische Reserve für den Winter. Denn auch wenn die Füllstände schon jetzt so hoch sind wie nie: Außergewöhnlich tiefe Temperaturen, höhere Nachfrage in Fernost oder Lieferprobleme in den USA oder Katar könnten die Versorgungslage schnell wieder kritisch werden lassen. "Wir sind aus meiner Sicht noch nicht durch", warnte Wirtschaftsminister Robert Habeck vergangene Woche. Forscher der Columbia-Universität mahnten kürzlich: "Die nicht ausgelasteten und schnell verfügbaren Lagerkapazitäten" in der Ukraine seien eine "einzigartige Chance für Europa, seinen derzeitigen - aber vorübergehenden - Gas-Überschuss in den Winter und weiter in die Zukunft zu verschieben".

Nach dem Ende der kommenden Heizperiode drohen noch viel größere Risiken für die Gasversorgung. Denn das Transitabkommen zwischen der Ukraine und Russland über die Durchleitung von Gas nach Europa läuft Ende 2024 aus. Zwar ist theoretisch vorstellbar, dass es noch einmal verlängert wird. Aber im derzeitigen Kriegszustand zwischen Moskau und Kiew scheint das so gut wie ausgeschlossen.

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Spätestens ab Anfang 2025 dürfte also auch über die Ukraine keinerlei russisches Gas mehr nach Europa strömen - und die EU muss sich dann ganz ohne den Kreml versorgen. Und dabei auch die Versorgungssicherheit der osteuropäischen Länder garantieren, die heute noch an Moskaus Tropf hängen. Da könnte ein zusätzlicher Sicherheitspuffer helfen - auch wenn er in der Ukraine lagert.

Auch die muss sich bis dahin komplett neu aufstellen. Denn die milliardenschweren Gebühren aus dem Gastransit sind für Kiew bislang eine der wichtigsten Einnahmequellen - und werden ab 2025 sehr wahrscheinlich wegfallen. Die Nutzung ukrainischer Speicher durch europäische Gashändler könnte einen Teil der Einnahmen ersetzen und den ukrainischen Staatshaushalt stabilisieren helfen. Die Röhren und Pumpen in den Wäldern von Bilche sind also sowohl für Brüssel als auch für Kiew von vitalem Interesse - und dürften die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine wohl unausweichlich vertiefen.

Quelle: ntv.de

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