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Wird Blarcamesin zugelassen?Experten zweifeln an neuer Alzheimer-Tablette

12.11.2025, 11:48 Uhr
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Allein in Deutschland leben schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen mit der Alzheimer-Erkrankung - und mit der demografischen Entwicklung steigt die Zahl. (Foto: picture alliance / Image Source)

Eine neue Pille soll das Fortschreiten von Alzheimer bremsen und einfacher sein als bisherige Therapien. Das Zulassungsverfahren in Europa läuft bereits seit fast einem Jahr. Die entscheidende Studie dazu weist jedoch erhebliche Mängel auf, sagen Experten.

Die öffentliche Aufmerksamkeit für Alzheimer-Therapien ist groß: Schon bevor in diesem Jahr zwei Präparate in Europa als erste ursächliche Therapien gegen diese häufigste Demenzform zugelassen wurden, wurde über das Für und Wider der betreffenden Antikörper lebhaft debattiert. Kein Wunder: Die nach wie vor unheilbare Alzheimer-Krankheit betrifft hierzulande mehr als eine Million Menschen.

Umso erstaunlicher, dass weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit in Europa schon seit Dezember 2024 ein Zulassungsverfahren für eine weitere Alzheimer-Behandlung läuft: Der Wirkstoff Blarcamesin des Unternehmens Anavex soll die Selbstreinigung der Nervenzellen im Gehirn anregen und könnte - ähnlich wie die Antikörper Lecanemab und Donanemab - im Frühstadium der Erkrankung helfen.

Schaut man sich die Resultate der Zulassungsstudie an, scheint die Effektstärke ähnlich zu sein wie bei den zugelassenen Antikörpern. Demnach bremst Blarcamesin in der Frühphase das Fortschreiten der Erkrankung um grob ein Drittel. Aber während die Antikörper per Infusion intravenös verabreicht werden und beträchtliche Nebenwirkungen haben, scheint das als Tablette genommene Blarcamesin nicht nur einfacher einzunehmen, sondern auch besser verträglich zu sein. Zumindest auf den ersten Blick.

Zugelassene Antikörper mit beträchtlichen Nebenwirkungen

Allein in Deutschland leben schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen mit der Alzheimer-Erkrankung - und mit der demografischen Entwicklung steigt die Zahl. Bei der Krankheit, deren genaue Ursache noch nicht abschließend geklärt ist, sterben zunehmend Nervenzellen im Gehirn ab. Das führt zu Gedächtnisstörungen und zunehmenden Problemen, den Alltag zu bewältigen.

Gegen die nach wie vor unheilbare Erkrankung sind in Europa seit diesem Jahr erstmals zwei ursächliche Therapien zugelassen: In der Frühphase können die beiden Wirkstoffe Lecanemab und Donanemab das Fortschreiten der Erkrankung Studien zufolge um etwa ein Drittel bremsen. Beide Antikörper sollen in den Hirnzellen an das Protein Amyloid-beta (Aß) binden und dessen giftige Ablagerungen direkt entfernen. Diese sogenannten Plaques gelten seit Jahren als Hauptverdächtige für die Entstehung der Erkrankung.

Nachteile der Antikörper sind zum einen die aufwendige Verabreichung alle zwei Wochen per Infusion und zudem die beträchtlichen Nebenwirkungen wie etwa Hirnödeme. Daher sind regelmäßige Hirnscans per MRT erforderlich. Zudem sind Menschen mit bestimmten Genvarianten von der Therapie ausgeschlossen. Experten schätzen die Zahl der für die Behandlung infrage kommenden Patienten auf bundesweit maximal 12.000.

Gänzlich anderes Wirkprinzip

Der Wirkstoff Blarcamesin beruht auf einem anderen Prinzip: Er soll die Zellen vor allem über die Aktivierung des Sigma-1-Rezeptors zur sogenannten Autophagie anregen, also generell zum Abbau zellschädigender Stoffwechselprodukte. Dazu zählt neben Amyloid-beta unter anderem auch das Protein tau, der zweite Hauptverdächtige bei der Fahndung nach der Alzheimer-Ursache, wie Timo Grimmer vom Universitätsklinikum der Technischen Universität München erklärt. Der Psychiater gehört zum wissenschaftlichen Beirat von Hersteller Anavex und ist Co-Autor der Zulassungsstudie, deren Resultate Anfang des Jahres im "Journal of Prevention of Alzheimer's Disease" ("JPAD") veröffentlicht wurden.

Die Studie, an der allein in Deutschland fünf Kliniken beteiligt waren, untersuchte insgesamt etwa 460 Teilnehmer im Alter von 60 bis 85 Jahren mit Alzheimer im Frühstadium. Zwei Drittel von ihnen nahmen einmal pro Tag eine Tablette mit Blarcamesin (Anavex 2-73) oder aber ein Scheinpräparat, über insgesamt elf Monate.

Tests ergaben, dass das Mittel das Fortschreiten der Krankheit im Vergleich zum wirkungslosen Placebo um etwas mehr als ein Drittel bremste. Häufigste Nebenwirkungen waren der Studie zufolge Schwindel und Verwirrtheit.

"Die orale Gabe von Blarcamesin könnte eine neue Behandlung der frühen Alzheimer-Krankheit sein und zusammen mit oder alternativ zu Medikamenten gegen Aß eingesetzt werden", schreibt das Team um Marwan Sabbagh vom Dementia Centre in Melbourne. Die Effektstärke sei etwa mit jener der zugelassenen Alzheimer-Antikörper vergleichbar, sagt der Münchner Co-Autor Grimmer. Um das genau klären zu können, bräuchte man allerdings einen Direktvergleich der Präparate.

Zulassung ist schon lange beantragt - doch wird es dazu kommen?

Grimmer schätzt, dass in Deutschland etwa 200.000 Menschen für die Therapie infrage kommen könnten. Nach eigenen Angaben hat Anavex die Zulassung des Wirkstoffs bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) im vorigen Dezember beantragt. Zum Stand des Verfahrens ist nichts bekannt, allerdings war für den 11. November eine mündliche Anhörung dazu anberaumt.

Doch warum fanden weder die Studienresultate noch der Zulassungsantrag bisher viel öffentliche Aufmerksamkeit? "Hinter dem Wirkstoff steht kein großer Pharmakonzern", vermutet der Neurologe Emrah Düzel vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Magdeburg. "Dementsprechend haben die Studien auch nicht die Größenordnung wie bei den Antikörpern."

Hinter Lecanemab steht der japanische Hersteller Eisai, hinter Donanemab der Pharmakonzern Eli Lilly. Blarcamesin wird dagegen von dem kleinen Unternehmen Anavex mit Sitz in New York City produziert. Doch es gibt wohl auch andere Gründe.

Klare Kritik und viele Zweifel

So hatten die Zulassungsstudien für Lecanemab und Donanemab nicht nur wesentlich mehr Teilnehmer, sie liefen auch länger - 18 Monate, bei Blarcamesin waren es 11 Monate. Zudem wurden sie ranghoch publiziert - im "New England Journal of Medicine", der wohl renommiertesten medizinischen Fachzeitschrift. Die Studie zu Blarcamesin erschien im deutlich kleineren "Journal of Prevention of Alzheimer's Disease".

Fast ein Drittel (gut 32 Prozent) der Menschen in der Blarcamesin-Gruppe brach dem Fachartikel zufolge die Behandlung ab, im Vergleich zu nur etwa sieben Prozent in der Placebo-Gruppe. Und im Mai kritisierte der Hirnforscher Jesse Brodkin vom britischen Unternehmen Behavioral Instruments die von Anavex publizierten Daten in einem offenen Brief zudem als unzureichend und unplausibel. Denn der Schutzeffekt der Substanz tritt den maßgeblichen Daten zufolge erst ganz am Ende des Untersuchungszeitraums auf - vorher nicht.

Studien mit dem Wirkstoff laufen bei vielen anderen Erkrankungen

Dieser zeitliche Verlauf sei "unplausibel", sagt auch der Neurologe Jörg Schulz vom Universitätsklinikum Aachen. Effekte seien nur zum letzten Untersuchungszeitpunkt nach 48 Wochen zu sehen, aber zu keinem der vorher untersuchten Zeitpunkte. "Das reicht, um eine Hypothese aufzustellen", erläutert der Sprecher der Kommission Demenzen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). "Aber über eine positive Bewertung des Zulassungsantrags würde ich mich wundern. Der therapeutische Effekt muss vernünftig gezeigt werden - und da fehlt einfach etwas."

Studien im Labor und auch an Tieren hätten zwar durchaus Hinweise darauf erbracht, dass die Autophagie fehlgefaltete Proteine, die bei vielen neurodegenerativen Erkrankungen wie etwa Alzheimer eine Rolle spielen, aus Zellen entfernen und dadurch Nervenzellen schützen könnte, erklärt Schulz. Für den Menschen stehe ein Nachweis für einen Nutzen bislang aber aus.

Möglicherweise könnte sich das in der Zukunft ändern: Hersteller Anavex verweist auf seiner Website auf eine ganze Reihe von Studien mit dem Wirkstoff auch bei anderen Erkrankungen. Dazu zählen etwa Parkinson, die Parkinson-Demenz sowie diverse genetisch bedingte neurologische Entwicklungsstörungen wie Rett-, Angelman- und Fragiles-X-Syndrom (FXS).

Quelle: ntv.de, Walter Willems, dpa

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