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Paradise Lost: „In Requiem" Die Ästhetik der Tragik

Tragik und Imagination – dies sind die zentralen Themen der britischen Rock-Formation Paradise Lost. Aus der Brachial-Metal-Ecke kommend, haben sie im Laufe ihrer nunmehr 19-jährigen Bandgeschichte eine in diesem Genre wohl einzigartige Wandlungsfähigkeit gezeigt, die im Grunde immer nur einem einzigen Ziel folgte: mit den unterschiedlichsten Mitteln eben diese Reflexionskraft zu kultivieren.

Zwischen Norm und Realität

Ihr auf den ersten Blick etwas vermessener Anspruch, eine vertonte Anthropologie der Tragik vorzulegen, zeigt sich schon in der Namenswahl. Bei "Paradise Lost" handelt es um ein in Blankversen abgefasstes Epos des englischen Dichters John Milton (1608 – 1674), das die Entstehung des Bösen durch den Abfall Satans von Gott thematisiert. Der mit ihm einhergehende Sündenfall des Menschen gerät dabei zum Ausgangspunkt einer Rechtfertigung Gottes angesichts all des von ihm in der Welt zugelassenen Übels.

Damit ist auch das Leitmotiv der Band benannt: der die menschliche Existenz kennzeichnende Widerspruch von Norm und Realität, von schöpferischen und zerstörerischen Verwirklichungsmöglichkeiten der Freiheit. Dieses Spannungsverhältnis ist Ursprung und Quelle menschlicher Tragik. Hat sich die Band bei den ersten Alben noch damit begnügt, diesen Widerspruch zu ästhetisieren und damit einer Form der Linderung zuzuführen, so ist das neue Album als Versuch zu sehen, einen Ausweg aus diesem Leidenszustand zu weisen.

Atmosphärische Klangkathedralen

Mehr noch als die Texte gibt dabei die Musik diese Ästhetik der Tragik wieder. War das Debutalbum "Lost Paradise" noch von der juvenilen Lust am Lärmen geprägt, so deuteten Paradise Lost bereits auf ihrem zweiten Album "Gothic" ihre ganz und gar außergewöhnlichen musikalischen Qualitäten an. Neben atmosphärischen Keybordeinlagen und dem Einsatz einer Opernsängerin waren es vor allem die sich zu wahren Klangkathedralen auftürmenden virtuosen Gitarrensoli von Gregor Mackintosh, die für den unverwechselbaren Paradise Lost-Stil sorgten. Für eine mitreißende Dynamik sorgte zudem das kongeniale Duell von Lead-und Rhythmusgitarre. Abgerundet wurde das Ganze von Sänger Nick Holmes seinerzeit noch extrem rauen, ja nahezu unmenschlichen Stimme.

Der Nachfolger "Shades of God” war wieder ein lupenreines Rockalbum, danach nahmen ausgehend von "Icon" die elektronischen Bestandteile immer stärker zu, um über "Draconion Times" zu einem vorläufigen Höhepunkt in Form des mit deutlichen Indie-Anstrichen versehenen 1997er Hitalbums "One Second" zu kulminieren. Aber wie es so ist im Leben, der Moment des Triumphs ist stets auch der Anfang einer Krise. Jedenfalls war nun ein gewisser Stillstand unverkennbar. Mit "Host" wagte die Band zwar noch einmal einen weiteren Schritt in Richtung Elektronik, der von der Anhängerschaft jedoch nicht eben goutiert wurde. Die darauf folgenden Alben waren dann wieder deutlich rockiger, aber auch etwas uninspiriert und boten wenig Neues.

Zurück in die Zukunft

Aus dieser Sackgasse hat sich die Band nun befreit und beherzt die Flucht nach vorn angetreten. Das neue Album "In Requiem" erscheint als Rückkehr zur Schroffheit früherer Tage, ohne dabei auf ausgefeilte Arrangements und die so typische Melodik zu verzichten. Allerdings sind die zahlreichen Überraschungsmomente und Wendepunkte hinter einer reichlich spröden Schale versteckt, die sich erst nach mehrmaligem Hören durchdringen lässt. Schon der Opener "Never for the Damned" zeigt die Richtung an. Nach einem kurzen, leicht orientalisch angehauchten Intro geht es sofort kompromisslos zur Sache. Schwere, schleppende Gitarrenriffs wechseln sich mit schnelleren Passagen im Stakkato-Stil ab. Nick Holmes Gesang changiert zwischen ruppigen Wehklagen und geschmeidigen Zureden. Für die notwendige Atmosphäre sorgt – wie bei allen Songs – ein aus dezenten Synthies bestehenden Soundteppich.

Auch wenn das Album damit in seinen Grundzügen gut charakterisiert ist, überrascht es immer wieder mit weiteren Facetten. Insbesondere die Songs "Praise Lamented Shade" und "Unreachable" fallen aus dem Rahmen. Ersterer besitzt starke Nu-Metal-Anleihen, wobei Nicks Gesang diesmal, ja, irgendwie an Chester Bennington von Linkin Park erinnert?! Letzterer ist eine Ansammlung entspannter und in sich verschlungener Melodielinien, welche sämtliche Ausdrucksmittel der Band wie zu einem Konzentrat verdichtet.

Als songübergreifendes Motto versucht das Album eine kontrastierende Gegenüberstellung von zunächst antithetisch erscheinenden Empfindungen wie Brutalität und Empathie sukzessive in eine Art Synthese zu überführen, in welcher diese vermeintlichen Gegensätze zumindest ansatzweise aufgehoben werden. Am Besten ist dies im Song "Ash & Debris" gelungen, der praktisch aus zwei Teilen besteht, deren Summe aber eine neue, höhere Wahrnehmungsebene abgibt. Das Ansinnen, mit einer derartigen reflexiven Transformation die menschlichen Widersprüche, mithin die Tragik zu überwinden, darf man als rundum geglückt bezeichnen. Und dies alles ist auch ganz folgerichtig, denn auch bei John Milton gibt es schließlich ein "Paradise Regained"!

Daniel Müller

Paradise Lost "In Requiem", CD , Mai 2007, Century Media, 13,95 Euro.

Quelle: ntv.de

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