
Der Glaube trägt den pensionierten Pfarrer Richard schon lange nicht mehr.
(Foto: imago images/serienlicht)
Am Ende des Lebens gibt es die Wütenden und die Schuldigen, sagt Palliativmedizinerin Kathi auf dem Weg zu Richard, ihrem nächsten Patienten. Die Mischung aus Wut und Schuld ist so einzigartig wie die Dosierung der Medikamente, die sie dabei hat. Und so sind es auch die Verstrickungen dieser Familie im Pandemiefrühling 2020.
Frühjahr 2020 - Deutschland ist im Lockdown, alles dreht sich um das Virus, seine Ausbreitung, das tatsächliche oder mögliche Sterben. Es scheint, als gäbe es nichts anderes mehr. Aber das Leben geht trotzdem weiter und manchmal auch ganz ohne Coronavirus zu Ende. Richard, der pensionierte evangelische Pfarrer in der Uckermark, hat Krebs, sein Sterben hat mit dem Virus nichts zu tun. Nur die ehemalige Schwiegertochter Maria kann gerade nicht kommen - Quarantäne. Sie hatte als Anästhesistin in der Charité Kontakt mit Infizierten.
Also schickt sie ihre Freundin Kathi und ihre Tochter Selma in die Uckermark. Richards Prognose geht nur noch von wenigen Lebenstagen aus. Kathi hat als Palliativmedizinerin mit dem Sterben genug Erfahrung und ihren Koffer voller schmerz- und angstlindernder Drogen dabei. "Vielleicht hatte sie das Wort Fentanyl ein paar Mal zu oft gehört, doch Selma wurde auf einmal bewusst, wie sehr es beim Leben und Sterben um Betäubung ging - im richtigen Maß, an der richtigen Stelle, zur richtigen Zeit."
Kathi hat das Sterben vieler Menschen begleitet, aus ihrer Sicht gibt es am Ende zwei Arten von Sterbenden, "die Wütenden und die Schuldigen". Wie bei den Medikamenten auch ist es eine Frage der Dosierungen, der Mischungsverhältnisse. "Mal überwiegt das eine, mal das andere, dann kippt es wieder. Erst am Schluss, wenn alles zusammenkommt, das Unerledigte eines Lebens, die offene Rechnung, wenn du so willst, läuft es meist auf eins von beiden hinaus."
Eine ganz normale Familie
John von Düffels Roman "Die Wütenden und die Schuldigen" stellt im Brennglas einer Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Pandemie die ganz großen Lebensfragen. Da ist Richard, der Pfarrer, der selbst schon vor Jahren nach dem Tod seiner Frau im Kindbett den Glauben an Gott verlor. Holger, das damals geborene Kind, wird einmal Marias Mann und der Vater von Selma und Jakob. Doch Holger leidet am Leben und ist nach einem Suizidversuch Dauerpatient in einer psychiatrischen Klinik.
Maria hat nach der Scheidung und dem Auszug der Kinder ihr eigenes selbstbestimmtes Leben in Berlin, das ausgerechnet in der Quarantäne erschüttert wird. Nicht nur, dass Richard im Sterben liegt. Sohn Jakob will wieder bei ihr einziehen, nachdem er bei seiner Freundin oder inzwischen vielmehr Ex-Freundin rausgeflogen ist. Ausgerechnet jetzt gibt es in der Wohnung über ihr einen Wasserschaden und Maria, die Frau mit den polnisch-katholischen Wurzeln, begegnet so einem Rabbi und kann gar nicht aufhören, ihm ihr Herz auszuschütten.
Jakob wiederum muss nicht nur eine Bleibe finden, sondern auch seinen Drogenkonsum und die daraus resultierenden Schulden unter Kontrolle bringen. Außerdem ist er in seine Kunstprofessorin verliebt, die wiederum mit großer Hingabe und Detailgenauigkeit seinen Penis malt. Kein Wunder, dass dabei Selma und ihre Schwierigkeiten irgendwie ins Hintertreffen geraten, selbst als sie zunächst Zeugin von sexueller Gewalt und schließlich selbst angegriffen wird.
Und dann sind da noch die Haustiere, die Holger als Kind nie haben darf, weil Richard jede emotionale Bindung zu vermeiden sucht, aus Angst, den Verlust nicht zu überleben. Ausgerechnet in seinen letzten Lebenstagen beschließt eine Dorfkatze, dass sie nun zu ihm und dem zunehmend verlotternden Pfarrhaus gehören wird. Das weckt Erinnerungen an die Katze im Altenheim, die den Tod der Bewohner "vorhersagen" konnte. Und auch Morpheus, wie Selma das Tier tauft, ist offenbar dem Tod bereits näher als dem Leben.
Das große Reich der Schuld
Nicht jeder dieser angedeuteten Geschichten widmet von Düffel die gleiche Aufmerksamkeit. Manchmal hat man als Leser das Gefühl, der Autor hatte in der Langeweile der Pandemie immer neue Einfälle, die die Geschichte zu sprengen drohten und deshalb unvermutet enden, wie ein verstaubter Feldweg in der Uckermark. Auch Corona, der Lockdown und die Pandemie sind wohl eher die Nacherzählung der Situation des Schreibens als integrale Bestandteile der Geschichte.
Trotzdem entfalten die Geschichten hinter den Geschichten, wie Maria sie nennt, beim Lesen einen Sog, die das Mitdenken und -fühlen anzünden. Und wenn der Roman nach 314 Seiten seltsam abrupt endet, wäre man durchaus bereit für noch mehr von dieser gar nicht so verrückten Familie. Es bleibt die Frage nach dem Mischungsverhältnis von Wut und Schuld. Denn wie sagt Kathi auf den ersten Seiten bei jener Autofahrt in die Uckermark: Schuld bestehe nur zu einem kleinen Teil aus Täterschaft. "Das eigentliche große Reich der Schuld erstreckt sich über all das, was man nicht getan hat." Und das gilt irgendwie für jedes Leben.
Quelle: ntv.de