Unternehmer übt Systemkritik Sozialstaat als Privatsache
12.07.2007, 10:42 UhrEin Gespenst geht um in Europa. Es irritiert und polarisiert. Die Linke hat ihm einen Bundesarbeitskreis eingerichtet, Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus beschwört es in der CDU. Es nimmt unterschiedliche Formen an und hängt noch völlig in der Schwebe. Das Gespenst nennt sich „bedingungsloses Grundeinkommen“ und Götz W. Werner, der Chef der Drogeriemarktkette dm, hat ihm das Buch „Einkommen für alle“ gewidmet.
Unternehmen „Freiheit und Gerechtigkeit“
„Ob ich ein Träumer bin? Aber natürlich, denn jeder Unternehmer, jeder Mensch, der Dinge bewegen will, träumt zuerst von seinem Ziel.“ So eröffnet Werner sein Plädoyer. Jeder soll, unabhängig von Bedürftigkeit und Beruf, ein Monatseinkommen vom Staat erhalten, das zum Leben reicht. Niemand wäre mehr gezwungen, für Dumpinglöhne Haare zu schneiden. Langweilige oder anstrengende Tätigkeiten müssten dann besser bezahlt werden, so die Idee.
Im bedingungslosen Grundeinkommen sieht Werner eine neue soziale Gerechtigkeit. Er rechnet vor, dass in Deutschland nur ein Drittel der Menschen steuerpflichtiger Erwerbsarbeit nachgehen, während jeder dritte Euro des Bruttoinlandsprodukts in Sozialtransfers fließt. Die Arbeitslosigkeit werde auch bei guter Konjunktur in Zukunft nicht nennenswert sinken, denn automatisierte Prozesse ersetzen zunehmend die menschliche Arbeitskraft. Dagegen könne die "Arbeit am Menschen", wie Werner sie nennt, weder effizienter noch billiger gestaltet werden. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte unser Verständnis von Arbeit fortschrittlicher und menschenfreundlicher machen.
Kurzsichtige Selbstversorgerinstinkte
"Der Kapitalismus ist mitnichten eine beschäftigungstherapeutische Veranstaltung." Mit pointierten Analysen und gelegentlichen Bibelexkursen ermuntert der Autor zum Umdenken. Arbeiten, verdienen, horten – die Selbstversorgermentalität sei in unserer arbeitsteiligen Überflussgesellschaft längst nicht mehr zeitgemäß. Werner veranschaulicht, was seit Keynes bekannt ist: Geld wirkt als Produktionsversprechen in die Zukunft. Nur investiertes Kapital schafft Arbeit und Güter. Im Sparstrumpf ist es aus volkswirtschaftlicher Sicht denkbar schlecht aufgehoben. Geld kann man schließlich nicht essen.
Der Unternehmer kritisiert die Besteuerung von Arbeit und Kapital, weil sie deren Produktivkraft hemmt. Stattdessen fordert er eine radikale Steuerreform: Wirtschaftlich richtig und sozial gerecht sei eine ausschließliche Besteuerung von Konsum, denn alles erarbeitete Geld wird früher oder später ausgegeben und Unternehmen schlagen ihre Steuerausgaben ohnehin schon auf die Verbraucherpreise. Die Konsumsteuer würde Preise transparent machen und sollte sozialverträglich nach Gebrauchs- und Luxusgütern gestaffelt werden. Das klingt logisch, doch wo fängt der Luxus an? Wer entscheidet, ob der erste und einzige BMW oder der vierte VW Gebrauchtwagen in der Garage der größere Luxus ist?
Einerseits wäre die konsumgesteuerte Idealgesellschaft ein Paradies für Unternehmer und Großverdiener. Andererseits bliebe so die Finanzierung des allgemeinen Grundeinkommens nicht an der erwerbstätigen Minderheit hängen. Weil alle Konsumenten, jung und alt, arm und reich, beisteuern müssten, liefe die Stigmatisierung "fauler Schmarotzer" ins Leere.
Fördern statt fordern
"Ohne Geldnot legen sich doch gleich alle auf die faule Haut", werden viele jetzt denken. Werner ist vom Gegenteil überzeugt: Das Grundeinkommen ersetze den Arbeitszwang durch konkrete Anreize, nämlich steuerfreie Löhne und kreative Freiräume. Jobs in Bereichen wie Pflege, Erziehung und Bildung wären endlich bezahlbar. Werner ist Unternehmer mit Herz und Verstand. Sein Glaube an einen allgemein menschlichen Schaffensdrang zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Im Kapitel "Zutrauen veredelt den Menschen" freut sich der dm-Chef, über den Erfolg seiner Unternehmensphilosophie und Fördermaßnahmen: Die Kolleginnen und Kollegen arbeiten motiviert, umsichtig und Hand in Hand. Die ebenso philantropische wie werbewirksame Beschreibung macht Lust, umgehend einen dm-Markt aufzusuchen und sich ins harmonische Ganze zu fügen.
Mehr als ein Hirngespinst
Werners Vorschläge sind kein sozialistisches Hirngespinst, eher ein authentisches Glaubensbekenntnis, basierend auf eigener Praxis, Nächstenliebe und einem Idealbild: Der weitsichtige, unternehmerische Mensch agiert unter freien und marktwirtschaftlichen Bedingungen so fair und nachhaltig, dass staatliche Ausgleichpolitik überflüssig wird. Doch kann ein bedingungsloses Grundeinkommen tatsächlich unseren Arbeitsbegriff reformieren, Hausarbeit, Kindererziehung, Lehre und Kulturarbeit aufwerten und das Vorurteil vom arbeitsscheuen Faulpelz ausräumen? Droht nicht ein "bedingungsloses Hartz IV", das nicht Arbeitslose von Armut und Perspektivlosigkeit erlöst, sondern eher die Wirtschaft von Steuerabgaben befreit und den Staat von sozialen Hilfeleistungen und Vermittlungspflichten freispricht? Ähnelt das bedingungslose Grundeinkommen nicht auffällig einem banalen Steuerfreibetrag mit integriertem Kombilohnmodell?
Zum Glück für den Leser überlässt Werner die rechnerischen Details ausdrücklich der Politik. Leider laufen seine idealistisch angehauchten, durchaus spannenden Denkanstöße damit Gefahr, in der erhofften politischen Diskussion bis zur Unkenntlichkeit verhandelt zu werden. Aber wenn nicht der Glaube Berge versetzen soll, was dann? Götz W. Werner leistet jedenfalls eingängige Überzeugungsarbeit.
Nona Schulte-Römer
Götz W. Werner: "Einkommen für alle", Kiepenheuer & Witsch, 224 Seiten, 16,90 Euro.
Quelle: ntv.de