Anrede zwischen Nähe und Abstand Der deutsche Krampf ums Duzen oder Siezen


"Du, Norbert ..." - "Ja, Herr Scholz?"
(Foto: imago/photothek)
Das kommunikative Nebeneinander von "Du" und "Sie" stiftet immer wieder Verwirrung – und kann sogar für betretenes Schweigen sorgen. Unser Autor plädiert für mehr wohltuende Distanz, um das zu erreichen, worauf es ankommt: eine respektvolle Kommunikation.
Ein freundliches "Sie" hat noch nie geschadet - wobei die Betonung auf "nie" liegt, denn eines steht fest: Die zwischenmenschlichen Störgefühle, die mit dem informellen "Du" auftreten können, gibt es mit dem förmlichen "Sie" einfach nicht.
Viele Menschen, die Deutsch sprechen, machen irgendwann diese Erfahrung: vielleicht mit einem Nachbarn, der nervt. Mit einem Kollegen, der unangenehm wird oder plötzlich einen höheren Posten hat. Oder mit der und dem Ex, die nicht mehr die Alten sind. Man fühlt sich weniger eng, ist nur scheinbar verbunden und definitiv verlegen – wegen zwei Buchstaben in der Anrede. Um weiterhin ohne Beklemmungen aufeinander zu- und miteinander umgehen zu können, wäre Abstand besser. Doch in puncto Anrede bleibt es eine theoretische Fantasie. Denn ist man einmal "per Du", wäre die Rückkehr zum "Sie" der totale Krampf.
Hitler wollte in der Schule von allen gesiezt werden
Wie seltsam es wirkt, jemanden unvermittelt aus der Duz-Zone heraus zu komplementieren und zum "Siezen" aufzufordern, zeigt das skurrile Beispiel, das ausgerechnet Adolf Hitler abgegeben haben soll - und zwar als Schüler in der Realschule in Linz: Er wollte dort von seinen Mitschülern nur mit "Sie" angeredet werden. Ein irrer, verhaltensauffälliger und womöglich psychopathischer Kauz muss man also sein. Oder nicht?
Man könnte den Mut aufbringen, es anders zu sehen: Schließlich gibt es nicht nur den Gedanken "Zurück zum Sie" oder "Hinauf zum Sie", sondern auch "Hinunter zum Du". Gerade, wenn Duz-Verhältnisse in die Respektlosigkeit abdriften, lohnt es sich, die Ansprache zu überdenken und - positiv ausgedrückt - zu harmonisieren. Mit "Sie" lässt sich ein schützender Abstand gewinnen. Sicherlich erfordert der Schritt Überwindung, aber das nur einmal statt viele Male Peinlichkeit und das ewige Bemühen, sich aus dem Weg zu gehen. Dabei sollte man für sich selbst geklärt haben, was einem wichtig ist: Will man unbedingt mit dem Nachnamen angesprochen werden? Falls nicht, gibt es die Option Vorname plus "Sie", die im deutschen Sprachraum längst Usus ist. Ihr Name: "Hamburger Sie"! In diesem Modus kann man sogar freundlich unfreundlich sein: "Peter, rauben Sie mir bitte nicht die Zeit mit Ihren Ausführungen. In Hamburg wissen wir doch längst: Plumpes Duzen ist doof."
"Sie" sticht "Du"
Generell gilt auch weiterhin in der deutschsprachigen Gesellschaft: "Sie" sticht "Du" - weil es eine Art Minderheitenschutz garantiert und unverfänglich ist. Wir kennen es aus größeren Personenkreisen, in denen gesiezt und geduzt wird. Ein einziges "Sie" reicht aus, um alle Anwesenden mit "sehr geehrte Damen und Herren" anzusprechen. Ein einziges "Du" ändert hingegen nichts - und lädt zu Spekulationen ein, wenn es etwa heißt: "Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Steffi".
Um keine Spekulationen zu provozieren und ein distanzloses Geschmäckle zu erzeugen, spielt das deutschsprachige Spitzenpersonal übrigens regelmäßig Theater! In Fernsehsendungen oder bei anderen öffentlichen Anlässen siezt man sich demonstrativ, obwohl man sich hinter den Kulissen duzt. Das wurde am 13. März im Deutschen Bundestag deutlich, als der CDU-Politiker Norbert Röttgen eine Frage an den Bundeskanzler richtete und ihn siezte. Als sich Olaf Scholz um eine Antwort bemühte, wechselte er auf einmal von "Sie" zu "Du" - "lieber Norbert" - was die wahre Ansprache der beiden preisgab. Ein typisch deutscher Krampf.
Zugleich ist es die alltägliche Koexistenz beider Anreden, die auf der praktischen Ebene nervt, weil sie die Ansprache kompliziert und gewunden macht: "Habt Ihr und haben Sie alle Unterlagen dabei?" Oder "Kannst Du und können Sie bitte aufhören zu quatschen?" Die Berücksichtigung beider Formen und die Rücksichtnahme auf die Minderheit sind dem "Gendern" nicht unähnlich. Wehe, man vergisst jemanden, obwohl es doch um etwas gänzlich anderes geht …
Das falsch verstandene Ende von Hierarchien
Im Vergleich europäischer Gesellschaften zeigt sich, dass das enge Nebeneinander von "Du" und "Sie" inzwischen eine deutschsprachige Spezialität ist. In Schweden etwa, wo es traditionell auch eine informelle und eine förmliche Anrede gibt, sorgte eine offizielle "Du-Reform" (Motto: "Säg Du till mig") in den 1960er- und 1970er-Jahren dafür, dass heute genau genommen nur noch der König gesiezt wird. In Frankreich oder Spanien dominiert weiterhin die Anrede mit "Sie" ("Vous"; "Usted"/"Ustedes"). In diesen Formen wird die meiste öffentliche Kommunikation geführt, und ähnlich dem Gendern legt man nur in alternativen Kreisen Wert auf Doppelnennungen.
Dabei muss man in Deutschland beachten, dass "Sie" weiterhin als standardmäßige Ansprache unter Erwachsenen gilt, während "Du" als unkomplizierte Errungenschaft betrachtet wird. Es ist Teil eines größeren, fundamentalen Wandels in Stil und Ton, der sich in den vergangenen 20 Jahren vollzogen hat: Die Krawatte kommt seltener zum Einsatz, Turnschuhe – gegenwärtig weiße – dafür umso häufiger. Und das einst private "Du" prägt zunehmend die professionelle Kommunikation, längst nicht nur in hippen Unternehmen oder Künstlerkreisen. Heute pflegen auch Regierungsmitglieder und alle Arten von Hausgemeinschaften, Beschäftigten und Führungsteams einen Umgang, den man noch in den 1990er-Jahren selten in Deutschland antraf und damals mit einem "Californian Way of Life" in Verbindung gebracht hätte.
"Du" als Machtspiel
Dabei ist "Sie" nicht unbedingt konservativ und "Du" nicht unbedingt progressiv in einem politisch-ideologischen und schon gar nicht in einem hierarchischen Sinn. Das Problem ist vielmehr, dass "Du" als subtiles Mittel der Macht dienen kann, indem es flache oder gar keine Hierarchien suggeriert - aber über seinen Einsatz trotzdem der- oder diejenige entscheidet, der oder die den Ton angibt. Das kann die Untergebenen in einer Art Schwebe lassen, insbesondere in Situationen, wenn über die Suggestion hinaus das "Du" nie ausgesprochen, sondern ebenfalls bloß suggeriert wird. Menschen, die mit "Sie" einen zivilisierten Umgang pflegen könnten, drucksen dann herum und sind um eine lockere Umgangsweise bemüht - stets in der Hoffnung, dass das Gegenüber endlich ausspricht, was T-Shirt und Turnschuhe zu versprechen scheinen. Im Ergebnis ist man "incommunicado" - ein Begriff, der in alter Rechtstradition einer Zwangs- und Einzelhaft gleichkommt und ein rechtloser Zustand ist. Also alles andere als eine Nettigkeit.
Zugrunde liegt das weitverbreitete Missverständnis, dass es in englischsprachigen Kulturen – oder in Nordeuropa – durch die dominante informelle Anrede ein garantiert hierarchiefreies, respektvolles, faires und insgesamt leichteres Miteinander gebe. Das ist in dieser pauschalen Weise ein ähnlicher Irrglaube wie der Mythos, das Wasser laufe auf der Südhalbkugel stets in entgegengesetzter Richtung durch den Abfluss.
Das englische "You" bedeutet gar nicht "Du"
Selbstverständlich trifft es zu, dass das Englische nur die Anrede "you" kennt – doch bloß weil sie wie "Du" klingt, ist sie nicht einmal dasselbe. Das zeigt ein Blick in die Sprachgeschichte: Bildete "thou" im Altenglischen die familiär oder freundschaftlich verbundene "Du"-Form, war "you" der höfliche Plural – wie "Sie" oder "Ihr". Wenn also heutzutage Personen auf vollkommen unterschiedlichen Ebenen mit dem Vornamen plus "you" angesprochen werden, ist das zunächst unserem "Hamburger Sie" näher als der Vorstellung, die wir oft von der englischen "First name basis" haben.
Die besondere Crux der "Du"-Kultur liegt darin, dass sie weder Hierarchien noch die damit verbundenen Signale – also Befehle! - beseitigen kann. Egal, ob das vermeintlich egalitäre englische "You" oder unser "Du" – beide bringen einen Berg neuer Signale mit sich, um dem Rang und der Rolle einer Person gerecht zu werden. Die gute Absicht, allen Menschen durch dieselbe Anrede mit demselben Respekt zu begegnen, bedeutet nicht automatisch, dass sie dieselben Fähigkeiten besitzen und deshalb dieselbe Bewertung verdient haben. Um diese Unterschiede auszudrücken, sind verschlüsselte Botschaften und entsprechende Entschlüsselungen erforderlich, kurz: eine Menge Interpretation!
Sprachliche Feinheiten, neue Distanz
Nicht ohne Grund kursieren in internationalen Organisationen oder im Netz allerlei Interpretationshilfen für die englischsprachige Du-Kultur. Da sagt ein Brite "I might join you later", wir verstehen "ich bin dabei" - doch er meint: Heute werden Sie mich bestimmt nicht mehr sehen! Hätte er "I will join you later" gesagt, wäre das unserem Verständnis näher. Dasselbe gilt auch für Sätze wie "I hear you" oder "You must come for dinner". Versteht er mich und bin ich eingeladen? Nein. Er ist anderer Meinung, und er will nur freundlich sein. Man muss es wissen!
Solche Feinheiten schaffen neue Distanz und bringen kommunikative Klimmübungen mit sich, die auch ein Krampf sind. Am Ende gilt, was der deutsche Bankier Carl Fürstenberg nach dem Ersten Weltkrieg zu seinem Fahrer sagte, den er stets Otto genannt hatte, aber der nun verlangte, Herr Lehmann genannt zu werden. "Na gut, Herr Lehmann! Allerdings muss ich ab sofort darauf bestehen, dass Sie mich Carl nennen."
Quelle: ntv.de