Panorama

Ein Jahr nach dem Genua-Unglück Die Gefangenen der Morandi-Brücke

Die Wunde, die der Einsturz der Morandi-Brücke in Genua vor einem Jahr gerissen hat, ist keineswegs verheilt. Die Menschen trauern noch immer an dem Ort, an dem in Sekunden ein Teil ihres Lebens begraben wurde. Andere haben das Gefühl, in einer Baustelle eingesperrt zu sein.

Vor dem Treffen mit Franco Ravera, dem Vorsitzenden des Verbands "Die von der Morandi Brücke", bleibt noch etwas Zeit, um sich selber ein Bild vom Unglücksort zu machen. Es war der 14. August vor einem Jahr, als sich um 11.36 Uhr das Unglück ereignete. Über Genua zog gerade ein heftiges Gewitter. Und dann gab es plötzlich dieses furchterregende Getöse, als würde die Himmelsdecke einstürzen. Und etwas stürzte wirklich ein: der Viadukt der Morandi-Brücke, die sich über den 45 Meter tiefer liegenden Fluss Polcevera spannte. 43 Menschen kamen dabei ums Leben.

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Der Blick durch die Baustellengitter weckt Erinnerungen.

(Foto: Andrea Affaticati)

An diesem späten Augustnachmittag, etwa ein Jahr nach der Katastrophe, erblickt man schon von Weitem die Spitze des meterhohen Stahl- und Betonbergs hinter dem Gitter des Baustellengeländes. Die letzten zwei Pfeiler wurden am 28. Juli gesprengt. Tausende Genueser sahen zu, wie ein Stück ihrer Geschichte kollabierte. 52 Jahre hatte die Brücke das Stadtbild geprägt, für die Einwohner war sie ihre "Brooklyn Bridge", die 1967 bei der Einweihung als Meisterwerk zelebriert wurde. Davon ist jetzt nur Geröll übrig geblieben.

Die Brücke sowie die darunterstehenden Wohnhäuser gibt es nicht mehr, dafür die "Straße der Kartons und der Erinnerungen", wie eine evakuierte Anwohnerin diesen Teil der Via Fillak nennt. Viermal ist sie hierhergekommen, um noch ein paar Habseligkeiten aus ihrem alten Zuhause in Kartons zu packen und mitzunehmen. Immer wieder bleiben Leute vor der abgeriegelten Baustelle stehen, versuchen durch das engmaschige Gitter zu blicken und fragen sich, wann hier der Alltag wieder einziehen wird. Die gleiche Szene sieht man auch 600 Meter weiter, am anderen Ende der Baustelle. Früher benötigte man von Certosa nach Sampierdarena, so heißen die zwei vom Einsturz betroffenen Viertel, keine fünf Minuten, jetzt ist es fast eine Stunde, ob mit Auto oder den öffentlichen Verkehrsmitteln.

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Überall sind noch die Spuren der Katastrophe zu sehen.

(Foto: Andrea Affaticati)

"Eine Gemeinschaft wurde auseinandergerissen", bemerkt Ennio Guerci, auch Mitglied des Verbands. Von den knapp 300 Familien, die ihre Wohnungen aufgeben mussten, lebt fast keine mehr in unmittelbarer Nähe. Auch Ravera und Guerci nicht. Doch ihr altes Viertel, wo sie seit ihrer Kindheit gewohnt haben, wollen sie trotzdem nicht aufgeben. "Seit dem Unglück haben wir uns an jedem 14. des Monats hier vor der Baustelle bei der alten Eisenbrücke getroffen, um der Opfer zu gedenken" erzählt Herr Ravera. Und hier wollen sie sich auch an diesem 14. August versammeln, abseits vom offiziellen Trubel: Erzbischof Angelo Bagnasco wird am Ort des Unglücks Messe feiern.

Im April 2020 soll die neue Brücke stehen

Das Gitter der Baustelle geht auf, ein Lkw fährt hinaus, ein anderer hinein. Für einen Moment ist der Blick auf die riesige Betonhalde frei. Der Neubau der Brücke hat endlich begonnen. Der Entwurf stammt vom Stararchitekten Renzo Piano, der ihn seiner Heimatstadt geschenkt hat. Im April 2020 soll sie fertig sein. "Na, wollen wir hoffen", meint Herr Ravera skeptisch. Gleich nach dem Einsturz hieß es, die neue Brücke werde noch in diesem Jahr stehen. Daraus wurde nichts. Dafür wurde aber für die Hinterbliebenen der Opfer und für die 566 evakuierten Menschen schnell gesorgt. Auf insgesamt 600 Millionen Euro belaufen sich die Kosten.

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Die neue Brücke wird nach einem Entwurf von Renzo Piano gebaut.

(Foto: Andrea Affaticati)

Als Hauptverantwortlicher der Tragödie gilt der Autobahnbetreiber Autostrade per l'Italia. Gerade wurde ein Untersuchungsbericht veröffentlicht, demzufolge seit 25 Jahren keine grundlegenden Sanierungsarbeiten durchgeführt wurden. Zwar wehrt sich Autostrade gegen die Anschuldigung, für die Tragödie verantwortlich zu sein, doch was die Entschädigung betrifft, war der Betreiber schnell zur Stelle: Den Hinterbliebenen wurden insgesamt 50 Millionen Euro ausgezahlt und den Bewohnern, die ihr Zuhause verloren haben, 115 Millionen Euro.

Wann es zum Prozess kommen wird, ist schwer zu sagen, die Ermittlungen laufen noch und mittlerweile wurde auch gegen weitere 72 mutmaßliche Verantwortliche Klage erhoben. Autostrade kommt das gelegen, denn solange kein rechtskräftiges Urteil gesprochen wurde, kann der Betreiber sich weigern, die 221 Millionen Euro Kosten für den Abriss und den Bau der neuen Brücke zu übernehmen. Es sei denn, die Regierung macht ihre Drohung wahr, Autostrade alle Autobahnkonzessionen zu entziehen. Das wäre ein harter Schlag, es geht um ein 3,2-Milliarden-Euro-Geschäft.

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Anwohner haben Banner an ihre Häuser gehängt.

(Foto: Andrea Affaticati)

"Ach, die machen ja sowieso ihr Ding", meint Luciano Mazza, der seine 77 Jahre wacker trägt. Er ist Mitglied des Circolo Club Romagna, eines der ältesten Verbände in Certosa. "Uns gibt es seit Anfang des 20. Jahrhunderts" sagt er stolz. Man treffe sich hier, um Karten zu spielen oder gemeinsam ein Fußballmatch anzusehen. Früher seien auch Jugendliche hierhergekommen, jetzt sind es fast ausschließlich ältere Menschen, die Gesellschaft suchen. "Doch nach dem Brückeneinsturz leben viele gar nicht mehr hier oder stecken auf der anderen Seite der Baustelle fest. Für die ist es jetzt unmöglich, hierherzukommen", klagt Mazza.

Leben in einer Baustelle

Wie abgeschnitten sich die Menschen auf der anderen Seite der Baustelle fühlen, sieht man auch an den beschrifteten Bettlaken, die dort von den Balkonen hängen. Auf ihnen steht beispielweise: "Uns gibt es auch noch". Auch Ivo, ein korpulenter Mittfünfziger, der gerade mit seinem Hund unterwegs ist, bestätigt es. Es ist, als wäre man in der Baustelle gefangen, erzählt er. Lärm und Staub, das höre nie auf. "Ich brauche gar nicht mehr den Wecker zu stellen, denn die beginnen hier um 5 Uhr morgens und arbeiten bis spät in den Abend hinein. Und das auch Samstag und Sonntag." Aber was solls, meint er, wehren könne man sich sowieso nicht, die Brücke müsse ja gebaut werden.

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Street-Art-Künstler gestalten das Projekt "On the Wall".

(Foto: Andrea Affaticati)

Was die Menschen hier weitaus mehr beschäftigt, ist die Frage: Was wird aus dem Areal, wenn die Baustelle weg ist? Die Stadtverwaltung plant einen großen Park. Francesco, der eine Pizzeria gleich um die Ecke der Via Fillak führt, ist darüber nicht wirklich glücklich. Er befürchtet, der Park könnte schnell zu einem Treffpunkt der Drogendealer werden, immerhin sei das schon ein Randgebiet. Ihm wäre ein Einkaufszentrum lieber. "Das wäre dann immer überwacht. Rundherum könnte man ja trotzdem Grünflächen, Spiel- und Sportplätze anlegen." Überhaupt müsste man ernsthaft über die Aufwertung dieses Stadtteils nachdenken, der schon vor dem Brückeneinsturz wirtschaftlich dahinsiechte.

Darüber hat sich auch die Stadtverwaltung schon Gedanken gemacht und zehn Street-Art-Künstler mit großen Wandmalereien auf den Seitenfassaden einiger Wohnhäuser beauftragt. Das Projekt "On the Wall" wurde im Juli eingeweiht und soll Besucher nach Certosa locken. Der Mailänder Künstler Gregorio Mancino hat stattdessen auf einer Werkstattmauer im Abschnitt Sampierdarena ein großes Mosaikherz aus Teller-, Tassen- und Fliesenbruchstücken geformt. Auf dem Messingschild steht: "Aus den Scherben schlägt Genuas verletztes Herz wieder". Der Satz erinnert an ein Lied des verstorbenen Genueser Liedermachers Fabrizio De André. Darin heißt es: "Aus Diamanten wächst nichts, aus Dung wachsen Blumen." Die Leute hier kämpfen für ihre verletzten Viertel weiter, in der Hoffnung, dass De André recht behält.

Quelle: ntv.de

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