Sechs Monate nach Fukushima Die Wunde ist noch frisch
13.09.2011, 07:02 Uhr
Offene Wunden: In Kesennuma in der Präfektur Miyagi sind die Spuren der Katastrophe noch deutlich zu sehen.
(Foto: AP)
Die Japaner gedenken in diesen Tagen der schweren Tsunami-Katastrophe vor einem halben Jahr. Doch nicht nur die Erinnerung, auch der Blick in die Zukunft peinigt die Betroffenen: An der Ostküste kommt der Wiederaufbau nur langsam voran, die Trümmer sind allgegenwärtig. Um das AKW Fukushima herrscht nackte Angst.
Als die Sirenen wieder heulten um 14.46 Uhr, erstarrte Japan für einen Moment. Das Gedenken an die Opfer der Katastrophe vor einem halben Jahr lenkte den Blick wieder zurück auf jenen unheilvollen Tag, an dem ein Erdbeben und ein Tsunami 20.000 Menschen töteten und das Leben von hunderttausenden Japanern an der Ostküste mit urwüchsiger Gewalt aus den Angeln hob.
80.000 Menschen leben noch in Notunterkünften.
(Foto: REUTERS)
Dort, wo am 10. März noch Hotels, Häuser und Geschäfte standen, erstreckt sich heute ödes Brachland. Wer sich an die Bilder der Trümmerberge unmittelbar nach der Katastrophe erinnert, erkennt, welch ein Fortschritt das ist. Nach Zukunft sieht es nicht aus.
Wiederaufbau dauert Jahrzehnte
"Wir werden die Hoffnung niemals aufgeben und schwören, dass wir vereint eine neue Stadt aufbauen werden", sagt der Bürgermeister von Minamisanriku, Jin Sato. Die Stadt wurde besonders schwer von dem Tsunami getroffen. Mehr als die Hälfte der Häuser wurden zerstört, 900 Einwohner starben. Mit Sato haben sich 2000 Bürger versammelt, die bei aller Rhetorik wissen: Bis in Minamisanriku und in den anderen zerstörten Gebieten wieder Normalität einkehrt, können Jahrzehnte vergehen. Rund 80.000 Menschen leben noch in provisorischen Unterkünften. Die komplette Infrastruktur muss neu aufgebaut werden – es fehlt an Tankstellen, die Stromversorgung funktioniert unregelmäßig, der Schulbetrieb läuft nur provisorisch. Auf rund 350 Milliarden Euro beziffert die japanische Regierung die nötigen Mittel für den Wiederaufbau.
Das ist eine enorme Summe für Japan, dessen Wirtschaft seit dem GAU in Fukushima in einer Rezession steckt. Die Stromknappheit ließ die Industrieproduktion zeitweise komplett einbrechen. Besonders schwer betroffen ist die Wirtschaft in den Präfekturen Fukushima, Miyagi und Iwate verloren nach Schätzungen der Regierung mindestens 70.000 Menschen ihren Job.
Angst vor dem Unsichtbaren
Leben abseits der Normalität: Schulkinder in der Präfektur Fukushima.
(Foto: REUTERS)
Zu Trauer und Hoffnungslosigkeit gesellt sich in den Gebieten nahe des havarierten Atomkraftwerks Fukushima die Angst vor den unsichtbaren Folgen der Kernschmelze. In den vergangenen Wochen rissen die Meldungen über radioaktiv belastetes Wasser, Fleisch und Gemüse nicht ab. Den Beteuerungen der Behörden, es bestehe keine gesundheitliche Gefahr, schenken nur wenige Menschen Glauben.
"Ich bin nicht überzeugt, dass mein Kinder keinen Schaden nehmen", erzählte Aya Marumori unlängst auf einer Pressekonferenz in Berlin. Die Ärztin ist Vorstandsmitglied der "Citizens' Radioactivity Measuring Station", einer Bürgerinitiative, die eigene Messungen organisiert und Aufzeichnungen über Erkrankungen führen will. Es ist eine Reaktion auf die schlechte Informationspolitik der Regierung, der die Bürger Misstrauen entgegenbringen. Überall in der Region entstehen nach dem Vorbild von Marumoris Initiative unabhängige Messstationen. Das Leben mit den Messwerten, es ist die neue, die albtraumhafte Normalität in den Gebieten nahe der 20-Kilometer-Sperrzone um das AKW Fukushima.
Innerhalb des Krisengebietes, das musste die Regierung unlängst einräumen, wird es auf absehbare Zeit keine Rückkehr der Bewohner geben. Bei einem Besuch in dem Kraftwerk nannte der erst eine Woche zuvor berufene Wirtschafts- und Handelsminister Hachiro die Region um das AKW eine "Todesstadt". Es war das Ende seiner kurzen Amtszeit. Der , der den wegen seines schlechten Krisenmanagements in Ungnade gefallenen Naoto Kan ersetzte, misst der Sperrzone symbolische Bedeutung zu: "Es ist meine feste Überzeugung, dass es keine Wiedergeburt Japans ohne die Wiedergeburt Fukushimas geben wird." Noda scheint verstanden zu haben, dass die Menschen ihren Blick auch wieder Richtung Zukunft lenken wollen.
Quelle: ntv.de, mit AFP