Nach Tumulten von Hameln Familie nach Attacken auf Polizei verurteilt
17.05.2017, 19:04 Uhr
Die fünf Männer und eine Frau erhielten Bewährungsstrafen unter anderem wegen Körperverletzung und Landfriedensbruchs.
(Foto: picture alliance / Holger Hollem)
Bei einem Fluchtversuch aus dem siebten Stock eines Amtsgerichts stirbt ein junger Tatverdächtiger. Angehörige des mutmaßlichen Räubers attackieren daraufhin Polizisten und Sanitäter. Für die Tumulte werden Mitglieder der Großfamilie jetzt verurteilt.
Dutzende Justizbeamte sichern das Landgericht Hannover, während die Angeklagten im Saal wegen einer Verzögerung fast eine halbe Stunde friedlich auf ihre Urteile warten müssen. Die kontrollierte Ruhe steht im Gegensatz zur ungezügelten Gewaltattacke der angeklagten Mitglieder einer Großfamilie gegen Polizisten und Sanitäter in Hameln vor gut zwei Jahren. Sie hatten damit auf den Tod eines Angehörigen reagiert.
Wegen Körperverletzung und Landfriedensbruchs verurteilt das Gericht die fünf Männer im Alter von 27 bis 46 Jahren sowie eine 50-jährige Frau zu Strafen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren Haft zur Bewährung. "Das war nur Glück, dass nicht mehr passiert ist", sagt der Vorsitzende Richter Stefan Joseph in der Urteilsbegründung, in der er auf die Dramatik der Tumulte eingeht, die am 14. Januar 2015 die Fachwerkstadt im Weserbergland erschütterten und gestandene Beamte um ihr Leben bangen ließen.
"Gelebte Ablehnung dieses Staats"
Unter anderem durch Pflastersteinwürfe und Pfefferspray wurden 24 Polizisten und sechs Unbeteiligte verletzt. Auslöser war der Sturz eines 26-jährigen mutmaßlichen Räubers bei einem Fluchtversuch aus dem siebten Stock des Amtsgerichts. Mitglieder seiner Familie randalierten anschließend vor dem Gericht und vor dem Krankenhaus, wo der Mann wenig später starb. In seiner fast einstündigen Urteilsbegründung macht Richter Joseph die heikle Abwägung des Gerichts transparent zwischen der Bestrafung der Taten, der Berücksichtigung der tragischen Umstände sowie der Schaffung einer Integrationsperspektive für die Angeklagten, die nach seiner Einschätzung Staat, Polizei und Justiz ablehnen.
Mit Nachdruck geht der Richter auf die besonders belastende Situation für die Angehörigen ein, die teils Augenzeuge des Todessturzes geworden sind. "Das darf aber nicht dazu führen, dass man Polizisten und Sanitäter angreift", sagt er. "Das ist gelebte Ablehnung dieses Staats. Das ist es, was da zum Ausdruck kommt, deswegen sitzen Sie hier." Der Richter betont aber zugleich, es gebe keine Sippenhaft. "Es geht hier nicht darum, M-Kurden abzuurteilen", sagt er. "Es kommt nicht darauf an, ob man sich M-Kurde nennt oder nicht, es kommt darauf an, was man gemacht hat." Den Angeklagten attestiert er ein Handeln nach dem Prinzip "Familie über alles, ohne Rücksicht auf Verluste".
Mhallamiye-Kurden - die sogenannten M-Kurden - flohen während des libanesischen Bürgerkriegs (1975-1990) unter anderem nach Deutschland. Ihre Lage nach der Ablehnung von Asylanträgen war oft prekär, was nach Einschätzung von Experten kriminelle Strukturen verstärkte. Auch in Niedersachsen wird immer wieder gegen M-Kurden ermittelt, auch einige der Angeklagten sind für die Justiz keine Unbekannten.
Milde oder Vorverurteilung einer Minderheit
Entsprechend aufmerksam blickte auch die Öffentlichkeit auf den Umgang der Justiz mit den Tumulten in Hameln. Ausführlich begründet der Richter wohl auch deshalb die Entscheidung für Bewährungsstrafen. "Sie haben in den letzten zwei Jahren gezeigt, dass es auch ohne Straftaten geht", würdigt er das Verhalten der Angeklagten seit den Tumulten - und mahnt sie zugleich: "Man kann Ihnen allen nur raten im eigenen Interesse die Füße besonders still zu halten in den kommenden Jahren."
Auf bis zu vier Jahre wurde die Bewährungszeit festgesetzt. Den Urteilen war eine Absprache von Anklage und Verteidigung über das Strafmaß im Gegenzug zu Geständnissen der Angeklagten vorangegangen. Dass die Frage angeblicher Milde oder Vorverurteilung einer Minderheit höchst sensibel ist, zeigt sich, als während der Urteilsbegründung ein Angeklagter um Unterbrechung bittet, ihm sei übel. Das müsse er jetzt aushalten, man werde ein Glas Wasser holen, bügelt der Richter ab und redet weiter.
Erst als der verschwitzt wirkende Mann später erneut um 30 Sekunden Pause zum Gang zur Toilette bittet, lenkt Joseph ein. Ein Wachtmeister stellt ihm nachher einen Mülleimer neben den Platz, "zur Sicherheit". Leise sagt ein anderer Angeklagter zu seinem Anwalt, genau das sei das Problem. Sie würden nicht ernst genommen, ihnen werde die Türe vor der Nase zugeschlagen.
Quelle: ntv.de, Michael Evers, dpa