War gerissenes Stahlseil schuld? Genua-Familien boykottieren Trauertag
17.08.2018, 17:46 Uhr
Nach dem Brückeneinsturz in Genua geben sich Italiens Regierung und die Betreiberfirma gegenseitig die Schuld. Viele Angehörige der Opfer können die Diskussion nicht ertragen und wollen dem Trauertag fernbleiben. Experten begeben sich derweil auf Ursachensuche.
Nach der Tragödie von Genua wollen mehrere Familien am Samstag nicht an der zentralen Trauerfeier teilnehmen, wie die Zeitung "La Stampa" berichtet. Zu schmerzlich ist die Schuld-Debatte und zu groß ist die Trauer über das Brücken-Unglück. Und viele Menschen werden auch Tage nach der Katastrophe noch gesucht.
In den Trümmern am Unglücksort setzten unterdessen hunderte Rettungshelfer unermüdlich ihre Arbeit fort: Zehn bis 20 Menschen werden laut Staatsanwaltschaft immer noch vermisst. Nach Angaben der Präfektur von Genua sind dort, wo die Brücke am Dienstag einstürzte, immer noch tausend Menschen im Einsatz, darunter fast 350 Feuerwehrleute. Ein von der Feuerwehr veröffentlichtes Video zeigte einen Helfer, der in einen mühsam freigelegten Hohlraum zwischen Steinen, Beton- und Stahlträgern hineinruft: "Ist da jemand? Ist da jemand?" Die Aussichten, Überlebende zu finden, galten drei Tage nach dem Unglück allerdings als gering. Unter Einsatz von Kränen und Bulldozern versuchen die Helfer, die größten Trümmerteile der eingestürzten Brücke zu beseitigen. Spezialisten arbeiten daran, die Trümmer in große Betonblöcke zu zerschneiden.
Für diejenigen, die ihre Familienangehörigen verloren haben, ist die Diskussion der Politiker kaum zu ertragen. Zahlreiche ranghohe Vertreter des Staates, allen voran Präsident Sergio Mattarella, werden zu der Zeremonie am Samstagvormittag erwartet. Doch laut "La Stampa" wollen die Angehörigen von 17 der insgesamt 38 Todesopfer der zentralen Trauerfeier fernbleiben, die vom Erzbischof von Mailand geleitet werden soll. Sieben Familien sind demnach noch unentschieden. "Der Staat hat das verursacht, die sollen bloß wegbleiben: Das Defilee der Politiker war beschämend", sagte die Mutter von einem von vier Jugendlichen aus Torre del Greco bei Neapel, die bei dem Brückeneinsturz ums Leben kamen, der Zeitung "Nunzia".
Die vierspurige Morandi-Brücke im Westen von Genua war am Dienstag auf einer Länge von mehr als 200 Metern eingestürzt. Dabei kamen mindestens 38 Menschen ums Leben. Lastwagen und Autos stürzten rund 45 Meter in die Tiefe und wurden teils unter Betontrümmern begraben.
War ein Seilriss die Ursache?
Wie es zu dem Unglück kam, ist immer noch unklar. Die Ermittlungen und Untersuchungen dauern an. Ein Seilriss als Ursache sei "eine ernste Arbeitshypothese", auch wenn es nach drei Tagen erstmal nur eine Hypothese sei, sagte der Professor für Stahlbetonbau an der Universität Genua, Antonio Brencich. Brencich gehört einer vom Verkehrsministerium eingesetzten Unfallkommission an. Die Zeitung "La Repubblica" zitierte Augenzeugen, die gesehen hätten, wie die Spannseile nachgaben.
Das in Rom erscheinende Blatt berichtete außerdem, dass eine Studie des Polytechnikums Mailand schon 2017 Schwächen an den Seilen entdeckt habe. Der vierspurige, etwa 1200 Meter lange Polcevera-Viadukt setzt sich aus drei Einzelbrücken zusammen, von denen eine einstürzte. Die von den Pylonen zum Fahrbahnträger reichenden Stahlseile sind in eine Betonummantelung eingeschlossen. Diese soll vor Korrosion schützen.
Benetton ist Zielscheibe
Unterdessen beherrscht die heftige Kontroverse zwischen Regierung und Autobahnbetreiber Autostrade per l'Italia die Berichterstattung. Als wichtigster Anteilseigener der Autobahnbetreiber steht auch der Benetton-Clan im Fokus der Schuld-Debatte: Die Familie, die mit ihrer Modefirma zu Reichtum gelangte und selbst immer wieder mit drastischen Werbekampagnen provozierte, ist für die populistische Fünf-Sterne-Bewegung und die fremdenfeindliche Lega zur Zielscheibe geworden. Die Fünf-Sterne-Bewegung warf zudem vor allem der Demokratischen Partei vor, in der Vergangenheit von der Finanzkraft des Clans profitiert zu haben. Statt die Mauteinnahmen in die Wartung zu investieren, seien diese als Gewinne verteilt worden "und die Brücken brechen zusammen", lautet der Vorwurf von Vize-Regierungschef Luigi di Maio. Nun gebe es "zum ersten Mal eine Regierung, die kein Geld von Benetton genommen hat". 30,25 Prozent hält die Benetton-Familie am Autostrade-Mutterkonzern Atlantia, der im vergangenen Jahr einen Nettogewinn von mehr als einer Milliarde Euro verbuchte.
Die Betreiber-Gesellschaft müsse außerdem bestätigen, dass sie den Viadukt auf eigene Kosten vollständig wiederaufbauen werde, hieß es. Der Präsident der Region Ligurien, Giovanni Toto, und Verkehrsstaatssekretär Edoardo Rixi erklärten laut Nachrichtenagentur Ansa, Genua werde schon nächstes Jahr eine neue Autobahnbrücke haben. "Die Gesellschaft Autostrade wird sie bezahlen. Wer sie baut, werden wir abwägen", sagte Rixi.
Quelle: ntv.de, sgu/AFP/dpa