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Allein zu Haus Immer mehr Japaner sind freiwillig einsam

Mehr als eine halbe Million 
Hikikomori, die sich vor dem Druck der japanischen Gesellschaft zurückziehen, leben in Japan.

Mehr als eine halbe Million Hikikomori, die sich vor dem Druck der japanischen Gesellschaft zurückziehen, leben in Japan.

(Foto: imago)

Es ist ein Trend in Japan: Hunderttausende Menschen vermeiden jahrelang den Kontakt zu anderen, sogar der eigenen Familie. Immer öfter sind es auch ältere Menschen, die sich isolieren. Die Rückkehr ins normale Leben ist schwierig.

Der einzige Anlass für Ikeida, seine Wohnung zu verlassen, ist der leere Kühlschrank. Alle drei Tage geht er einkaufen. Der 55-Jährige könnte sich Lebensmittel liefern lassen, doch da müsste er mit dem Boten sprechen. Und Kontakt mit anderen Menschen versucht Ikeida, der in Wahrheit anders heißt, so weit wie möglich zu vermeiden. Seine Eltern und seinen Bruder hat er seit 20 Jahren nicht getroffen.

Ikeida hat sich von der Welt zurückgezogen. Menschen wie ihn gibt es in Japan so viele, dass sie sogar einen eigenen Namen haben: Hikikomori. Bekannt war das Phänomen bislang vor allem unter jungen Menschen, die sich durch den Rückzug dem Druck entziehen, in der konformistischen japanischen Gesellschaft funktionieren zu müssen. Doch die Zahl der älteren Menschen, die sich für Monate oder Jahre von allem absondern, wächst.

Laut einer Studie im Auftrag der Regierung lebten 2016 mehr als eine halbe Million Hikikomori in Japan. Als Hikikomori galten dabei alle, die seit mehr als einem halben Jahr nicht zur Schule oder Arbeit gingen und mit niemandem außerhalb der Familie Kontakt hatten. Die Umfrage erfasste jedoch nur Menschen bis 39 Jahre. Jetzt will die Regierung mit einer neuen Studie herausfinden, wie viele Hikikomori es in der Altersgruppe von 40 bis 59 Jahren gibt.

Druck war zu groß

Ikeidas Karriere begann vielversprechend. Er studierte an einer prestigeträchtigen Tokioter Universität, wie seine Eltern es wollten, und erhielt in den 1980er Jahren mehrere lukrative Stellenangebote. Doch schnell wurde ihm klar, dass er nicht einer dieser Millionen Angestellten in schwarzen Anzügen werden konnte.

"Ich habe wirklich versucht, mich anzupassen", sagt er in dem Gespräch, das eine Hilfsorganisation für Hikikomori arrangiert hat. "Aber als ich diese Jobangebote bekam, wurde mir klar, dass ich mich mein ganzes Leben lang anpassen müsste. Ich fühlte mich hoffnungslos. Ich konnte keinen Anzug tragen. Mir zerriss es das Herz", erzählt Ikeida.

Der Druck schien ihm so groß, dass er beschloss, der Gesellschaft den Rücken zu kehren. Das war vor 30 Jahren. Seither besteht seine Welt fast nur aus seinem Zimmer. Ikeida lebt von Sozialhilfe und verdient ein bisschen Geld mit Online-Artikeln, die er verfasst.

Integration schwierig

Grund für den Rückzug seien meist Verletzungen, sagt die Psychologin Kayo Ikeda, die Eltern von Hikikomori berät. "Sie wurden gemobbt oder hatten zwischenmenschliche Probleme bei der Arbeit", sagt die Psychologin. Wie er zu einem Hikikomori wurde, beschreibt Ikeida in seinem Blog. Seine Mutter habe psychischen Druck auf ihn ausgeübt und ihn geschlagen, wenn er nicht genug lernte, erzählt er.

Je länger der Rückzug dauert, desto schwerer ist es für die Menschen, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. In der Studie von 2016 gaben mehr als ein Drittel der Hikikomori an, bereits länger als sieben Jahre isoliert zu leben. In einer Befragung 2009 waren es nur knapp 17 Prozent.

Ikeidas größter Wunsch ist, wieder am Leben teilzunehmen. Mehrmals bat er seine Eltern, ihn zu einem Psychiater zu begleiten, aber sie weigerten sich. Wie er sich aus seiner Isolation befreien könnte, weiß Ikeida noch nicht. "Ich könnte um mehr Besuche von Helfern bitten", überlegt er. "Aber gleichzeitig will ich das auch nicht. Das sind solche widersprüchlichen Gefühle."

Quelle: ntv.de, cam/AFP

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