Chronologie der Pannen in Tirol Ischgl: So nahm das Virus-Chaos seinen Lauf
18.03.2020, 21:47 Uhr
Die Après-Ski-Feiern in Tirol gingen nach dem positiven Corona-Test eines Barkeepers noch tagelang weiter.
(Foto: picture alliance/dpa)
Ischgl, der "Ballermann der Alpen", gilt mittlerweile als Drehscheibe des Coronavirus in Europa. Weil die Skisaison allen Warnungen zum Trotz viel zu spät abgebrochen wurde, haben etliche Infektionen von Island bis Italien ihren Ursprung in Tirol.
"Das Ausbruchsgeschehen, das wir im Moment haben, hat viel zu tun mit den Rückkehrern aus dem Skiurlaub". Das waren die Worte von Jens Spahn am Dienstagabend. Wer schon mal in einer Après-Ski-Hütte war, weiß wovon der Bundesgesundheitsminister spricht. In feuchtfröhlicher Stimmung konnte sich das Coronavirus vor allem im Wintersport-Eldorado Ischgl ausbreiten, weil die österreichischen Behörden versagten. Eine Chronologie.
Samstag, 29. Februar - Erster Viren-Alarm
Am frühen Nachmittag besteigt eine Gruppe Isländer am Franz-Josef-Strauß-Flughafen in München die Boeing 757 der Icelandair, um zurück in die Heimat zu fliegen. Die Reisegruppe hatte die Tage und Nächte zuvor in der österreichischen Wintersport-Hochburg Ischgl verbracht. An Bord auf dem dreieinhalbstündigen Flug treten bei Mitgliedern der Gruppe typische Corona-Symptome auf. Nach Ankunft in Reykjavik werden einige Reisende der Gruppe positiv auf Covid-19 getestet.
Donnerstag, 5. März - Ischgl auf einer Stufe mit Wuhan
Auf einer Pressekonferenz erklären die isländischen Gesundheitsbehörden Ischgl zum Risikogebiet. Damit steht die Skiregion von nun an auf einer Stufe mit der Corona-Brutstätte Wuhan oder den ebenfalls stark betroffenen Südkorea und Iran. Alle Skiurlauber, die sich in Ischgl aufgehalten haben, müssen für 14 Tage in häusliche Quarantäne.
Die Behörden in Tirol veröffentlichen eine Pressemitteilung und spielen das Gefahrenpotenzial herunter. "Nach ersten Erhebungen und infolge einer schriftlichen Information vonseiten eines Betroffenen an den Beherbergungsbetrieb dürfte sich die Ansteckung erst im Flugzeug bei der Rückreise von München nach Reykjavik ereignet haben", heißt es in dem Schreiben. Landessantitätsdirektor Franz Katzgraber lehnt sich weit aus dem Fenster: "Unter dieser Annahme erscheint es aus medizinischer Sicht wenig wahrscheinlich, dass es in Tirol zu Ansteckungen gekommen ist". Neben der 14-köpfigen Reisegruppe sei auch ein am Coronavirus erkrankter Italien-Urlauber im Flugzeug gewesen. Der Ski-Spaß in Ischgl kann also weitergehen.
Samstag, 7. März - Barkeeper infiziert
In Ischgl selbst wird ein deutscher Barkeeper des bekannten Après-Ski-Lokals "Kitzloch" positiv auf das Coronavirus getestet. Aber auch in diesem Moment lenken die örtlichen Behörden nicht ein, es scheint sich innerhalb der Tiroler Landesregierung niemand Sorgen zu machen.
Sonntag, 8. März - "Kein Grund zur Beunruhigung"
Die Landessanitätsdirektion Tirol gibt eine weitere Pressemitteilung heraus. Darin heißt es: "Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar ist aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich." Alle Skiurlauber, die vom 15. Februar bis 7. März im "Kitzloch" waren und grippeähnliche Symptome aufweisen, hätten die Möglichkeit, sich an die telefonische Gesundheitsberatung zu wenden. Alle "Kitzloch"-Gäste ohne Symptome bräuchten überhaupt nichts tun.
Immerhin kommen 22 enge Kontaktpersonen des Barkeepers ebenfalls für 14 Tage unter Quarantäne. Weitere Kontaktpersonen aus dem erweiterten Umfeld des 36-Jährigen werden lediglich dazu angehalten, "ihren Gesundheitszustand für die kommenden zwei Wochen zu beobachten". Es gebe aber keinen Grund zur Beunruhigung.
Eine fatale Fehleinschätzung, wenn man die Worte einer 34-Jährigen dänischen Ischgl-Urlauberin in der Zeitung "Dagbladet Information" liest. "Unsere Gruppe hat hundert Schnäpse bestellt. Diese wurden auf einer großen Platte serviert und sämtliche Kellner hatten Trillerpfeifen um ihren Hals hängen, um die Party so weiter anzuheizen. Ich selbst habe mir dann eine Trillerpfeife von einem Kellner ausgeborgt, ich wollte die Party am Laufen halten. Später habe ich dann erfahren, dass die Kellner mit Corona infiziert waren."
Montag, 9. März - Tirol rudert zurück
Der Großteil der in Quarantäne stehenden engen Kontaktpersonen des "Kitzloch"-Barkeepers wird positiv getestet. Insgesamt 15 Personen aus dessen Umfeld sind am Coronavirus erkrankt. 14 dieser 15 Infizierten stammen aus dem unmittelbaren Arbeitsumfeld des Mannes. Und wieder veröffentlicht die Landessanitätsdirektion Tirol eine Pressemitteilung und kassiert dort die Einschätzung ein, wonach sich die Isländer sehr wahrscheinlich erst im Flieger angesteckt hätten. Es könne "nicht ausgeschlossen werden, dass es eine Verbindung zu einem Teil der in Island positiv getesteten Personen gibt". Diese hätten sich "kürzlich ebenso in Ischgl in besagter Bar aufgehalten."
Dienstag, 10. März - Après-Ski-Lokale müssen schließen
Erst drei Tage nach Bekanntwerden des ersten Corona-Falls in Ischgl und fünf Tage nachdem Island das Skigebiet zum Risikogebiet erklärt hat, lenkt das Bundesland Tirol ein. Alle Après-Ski-Lokale müssen mit sofortiger Wirkung gechlossen werden. Längst sind aber Hunderte, möglicherweise Tausende, infizierte Urlauber ungeprüft nach Hause gereist. Und abseits der Wirtshäuser geht das bunte Treiben sogar noch weiter. "Der reguläre Skibetrieb wird währenddessen bis auf weiteres aufrechterhalten", verkündet Landeshauptmann Günther Platter.
Mittwoch, 11. März - Weitere Corona-Fälle
Kein Tag vergeht ohne Meldung von neuen Corona-Infizierten. Die Landessanitätsdirektion Tirol gibt mehrere neue Fälle mit Ischgl-Bezug bekannt, darunter zwei Männer, die ebenfalls das "Kitzloch" besucht hatten. Landesvater Platter kündigt an, den Skibetrieb ab dem 14. März für zwei Wochen zu untersagen. Bis dahin darf der Skispaß aber noch weitergehen. Mehrere Tage lang.
Freitag, 13. März - Quarantäne-Anordnung aus Wien
Die Österreichische Bundesregierung stellt das Paznauntal mit den Gemeinden Galtür, See, Kappl und Ischgl sowie die angrenzende Gemeinde St. Anton am Arlberg für mindestens 14 Tage unter Quarantäne. Das deutsche Robert-Koch-Institut erklärt sogar das ganze Bundesland Tirol zum Risikogebiet. Ausländische Urlauber werden aufgefordert, ohne Zwischenstopp nach Hause zu fahren und sich in häusliche Quarantäne zu begeben.
Samstag, 14. März - Appell des Landesvaters
Günther Platter macht nicht nur alle Bewohner des Paznauntals und von St. Anton auf die geltenden Quarantäne-Anordnungen aufmerksam, sondern ruft auch alle Personen, die sich seit 28. Februar in den betroffenen Regionen aufgehalten haben, dazu auf, "sich freiwillig häuslich zu isolieren".
Unterdessen verläuft die Abreise der Skiurlauber nicht wie geplant. Es gibt keinen geregelten Abreisestrom und statt ohne Unterbrechung nach Hause zu fahren, verbringen einige Touristen eine Nacht in Innsbrucker Hotels. Laut ORF hätten dies Hunderte Urlauber gemacht. Gut möglich, dass einige von ihnen unbewusst das Virus in der Tiroler Landeshauptstadt verbreitet haben.
Sonntag, 15. März - Skibetrieb geht immer noch weiter
Wie aus Social-Media-Posts und lokalen Medienberichten hervorgeht, stehen die Skilifte in Ischgl ungeachtet aller Risikoeinschätzungen immer noch nicht still. Die österreichische Tageszeitung "Der Standard" schreibt: "Die Gier hat die Verantwortung für die Gesundheit der Bürger und der Gäste besiegt." Es sei darum gegangen, die letzte Tourismuswoche ungeachtet aller Warnungen mitzunehmen, um die Kassen der Liftbetreiber und Hoteliers klingeln zu lassen.
Montag, 16. März - Dramatische Zahlen aus dem Ausland
Die Gesundheitsbehörden in Norwegen geben bekannt, dass fast die Hälfte aller infizierten Norweger das Virus aus Österreich eingeschleppt haben, überwiegend aus dem Paznauntal. Ähnliches hatte Tage zuvor bereits die dänische Regierung mitgeteilt. Und auch in Deutschland verteilt gibt es etliche Corona-Infizierte, die sich offensichtlich in Ischgl und Umgebung angesteckt haben.
Am Abend gibt Tirols Gesundheitslandesrat Bernhard Tilg von der ÖVP ein bemerkenswertes Interview in der ORF-Nachrichtensendung "Zib 2", Österreichs "Tagesschau"-Pendant. Im Gespräch mit Moderator Armin Wolf beharrt Tilg auf seiner Einschätzung, dass man alles, aber auch wirklich "alles richtig gemacht" habe. Es stimme nicht, dass man sich der Tourismus- und Bergbahnlobby gebeugt habe. Auch in der zeitlichen Abfolge sei "alles richtig" gelaufen.
Quelle: ntv.de