Panorama

Zwölfjährige Freundin erstochen Täterinnen konnten Tat vermutlich nicht überschauen

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Die Täterinnen brauchen jetzt auch Unterstützung, um das Ausmaß ihrer Handlungen zu verstehen.

(Foto: dpa)

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Zwei Teenagermädchen stechen mehrfach mit dem Messer auf eine Gleichaltrige ein. Das Mädchen verblutet. Bei einer solchen Tat fehlen nicht nur den Ermittlern die Worte. Erklärungen sind schwierig, aber nicht unmöglich.

Die Tötung einer Zwölfjährigen durch zwei gleichaltrige Mädchen in Freudenberg macht die Menschen fassungslos. Das Mädchen war seit Samstag vermisst worden und am Sonntag tot in der Nähe eines Radweges gefunden worden. Bei der Obduktion wurden zahlreiche Messerstiche festgestellt. Das Mädchen verblutete. Die tatverdächtigen Mädchen gerieten ins Visier der Ermittler, weil ihre Aussagen aus einer ersten Anhörung im Widerspruch zu den Aussagen anderer Zeugen standen. Bei einer intensiven Befragung gestanden sie schließlich.

Sogar die Ermittler zeigten sich angesichts der Tat erschüttert. "Nach 40 Jahren im Polizeidienst gibt es immer noch Ereignisse, die uns sprachlos machen", sagte Polizeivizepräsident Jürgen Süß auf der Pressekonferenz am Dienstag zu dem Fall. Auch Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler sagte: "Die Tat an sich ist sehr außergewöhnlich und erschütternd für uns."

Auch wenn man dazu neigt, lassen sich in dem Fall nicht die Maßstäbe anlegen wie in ähnlichen Verbrechen, bei denen Erwachsene Täter und Opfer sind. Das beginnt schon beim Motiv. Die Ermittler schweigen dazu. Das Thema sei jedoch komplex, hieß es. Das Motiv müsse am Alter der Verdächtigen gemessen werden, betonen die ermittelnden Beamten. "Was für ein Kind ein mögliches Motiv wäre, würde sich Erwachsenen völlig verschließen", schätzte Mannweiler ein.

Keine realistische Sicht möglich

Eltern von Teenagerkindern können ebenso wie Lehrkräfte aus eigener Erfahrung bestätigen, dass es nicht immer leicht ist, das Verhalten von Heranwachsenden aus einer rationalen Perspektive zu begreifen. Der Umbauprozess im Gehirn von Menschen dieser Altersklasse ist sehr komplex und gleichzeitig sehr heterogen und selbst für die Teenager nicht vorhersehbar. Denn betroffen sind von den Veränderungen Bewegungen, Wahrnehmung, Orientierung und Sprache, aber auch Impulskontrolle, Glückserleben und Planungsfähigkeit. Das führt unter anderem zu stärkeren Ausschlägen bei Erregungszuständen wie Wut, Angst oder Aggressivität. Damit lässt sich auch die besondere Risikofreude dieser Altersklasse erklären.

Kinder würden häufig durch Ereignisse, durch vermeintliche oder auch tatsächliche Provokationen so schwer erschüttert, dass sie darin eine Art Weltuntergang sehen, schätzt der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Thomas Bliesener, ein. Sie erlebten eine Provokation, eine Bloßstellung so, als sei damit das Ende ihres eigenen Lebens gekommen, sagte Bliesener dem RBB.

"Aufgrund der geringen Lebenserfahrung fehlt ihnen noch die Perspektive, dass auch solche Krisen vorübergehen." Aufgrund ihres Alters seien sie sich zudem der "Auswirkungen ihrer eigenen Tat kaum bewusst". Kinder hätten noch eine sehr rudimentäre Vorstellung vom Tod. "Sie haben nur eine abstrakte Vorstellung davon, was das bedeutet, wenn ein Leben dann zu Ende geht." Bliesener vermutet, dass die beiden Täterinnen völlig falsche Vorstellungen davon hatten, was sie mit einem Messerangriff bewirken. "Aufgrund der geringen anatomischen Kenntnisse glauben sie häufig, dass ein Zustechen im Bauchraum für drei, vier Zentimeter eigentlich nur eine Wunde herbeiführt, aber nicht zum Tode führen kann", so Bliesener.

Auch deshalb werden Kinder, die noch keine 14 Jahre alt sind und ein Verbrechen begehen, als schuldunfähig eingestuft. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass sie die Folgen ihres Handelns noch nicht ausreichend überblicken können. Folgenlos bleiben die Taten dennoch nicht. Die beiden 12- und 13-Jährigen wurden inzwischen "außerhalb des häuslichen Umfeldes untergebracht", teilte der zuständige Kreis Siegen-Wittgenstein mit. Das sei auch damit verbunden, dass die Kinder nicht ihre bisherigen Schulen besuchen.

Empathie auch für Täterinnen nötig

Kriminologe Bliesener spricht davon, dass ein Tötungsdelikt wie das in Freudenberg die Familien von Opfern und Tätern in den Grundfesten erschüttere. Die beiden Mädchen seien vermutlich "maßlos überfordert" mit der Situation und seien sich ihrer Tat noch immer "nicht richtig bewusst". Deshalb sei es sinnvoll, "diese Kinder erst mal rauszunehmen und in einen geschützten Bereich zu bringen".

Den Behörden zufolge haben die beiden Mädchen weiterhin Kontakt zu ihren Eltern. Die sei aufgrund des jungen Alters für die Entwicklung einer gelingenden Unterstützung sehr bedeutsam und werde unterstützt, teilte der Kreis mit. Auch für die beiden Tatverdächtigen handele es sich um eine "ganz außergewöhnliche Situation, die viel Empathie und umsichtiges Agieren erfordert", sagte Kreis-Jugenddezernent Thomas Wüst.

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Das Jugendamt prüft nun, wie es zu der Straftat kommen konnte oder ob die Familie Unterstützung bei der Erziehung benötigen. Weitere Schritte könnten Erziehungshilfen sein, wie beispielsweise eine individuelle sozialpädagogische Betreuung, aber auch die Unterbringung in einem Heim oder bei einer Pflegefamilie. Auch juristisch kann die Tat durchaus noch Folgen haben. Die Angehörigen der getöteten Zwölfjährigen können unter Umständen Schmerzensgeld geltend machen, bei den Eltern der Täterinnen.

Dass Kinder Kinder töten oder auch nur schwer verletzen, kommt selten vor. Bliesener zufolge müsse man sich aber natürlich Sorgen machen, dass so etwas überhaupt passiert. Tatsächlich sei eine Zunahme von Gewalt unter Kindern überhaupt nicht festzustellen. In der bundesweiten polizeilichen Kriminalstatistik 2021 stieg die Zahl der tatverdächtigen Kinder in diesem Bereich gegenüber dem Vorjahr bundesweit leicht an (7477 zu 7103). Verglichen mit 2019 gab es 2021 jedoch einen Rückgang um rund zehn Prozent. Bei den sogenannten Delikten gegen das Leben, also Mord, Totschlag und fahrlässige Tötung, gab es 2021 bundesweit 19 tatverdächtige Kinder, darunter vier Mädchen. Die Zahlen schwanken von Jahr zu Jahr stark, in den vergangenen 20 Jahren lagen sie jährlich zwischen vier und 21 Tatverdächtigen.

(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 15. März 2023 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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