
Eine Frage der Perspektive: 1981/82 zogen June und Helmut Newton von Paris nach Monte-Carlo - dadurch verlagerte sich nicht nur der Lebensmittelpunkt, sondern wechselte auch der Blickwinkel. ("Untitled, Saint-Tropez 1975)
(Foto: Helmut Newton, Untitled, Saint-Tropez 1975, © Helmut Newton Foundation)
Fotografie - eine Kunst, die erinnert, aufrüttelt, zum Nachdenken anregt. Auch wenn Helmut Newton mehr als zwanzig Jahre tot ist, haben seine Bilder nichts an Zeitlosigkeit, Einzigartigkeit und Bedeutung verloren. Ein Rundgang mit Stiftungsdirektor Matthias Harder.
Im Sommer 2022 kuratierte der Stiftungsdirektor der Helmut Newton Foundation, Matthias Harder, gemeinsam mit Guillaume des Sardes für die historische Villa Sauber in Monte-Carlo, die Einzelausstellung "Newton, Riviera". Erstmals wurde damit auch dieser späte Wohnort der Newtons und die gesamte Region, in der so viele ikonische Fotografien Helmut Newtons entstanden sind, intensiver beleuchtet. Und ein Ausschnitt aus jener Ausstellung wird nun in der Berliner Stiftung präsentiert. ntv.de sprach mit Matthias Harder über die Riviera-Fotografien, beginnend 1976 mit der Publikation "White Women" und endend mit "Yellow Press" (2003). Besonders spektakulär: Newtons allerletztes Shooting, eine Modestrecke für die italienische "Vogue" - fand an der Küste von Monaco statt. Dieses Motiv hängt nun als Wandtapete in der Berliner Jebensstraße. Beim Betrachten dieses riesigen Bildes glaubt man fast, vor Ort zu sein.
Am interessantesten jedoch wird es, wenn Harder die Geschichten erzählt, die in der zweiten Ausstellung "Dialogues. Collection FOTOGRAFIS x Helmut Newton" zu finden sind - denn dort geht es vorrangig um das, was zwischen den Bildern geschieht.

Thema? Nase. (Close-up, Italian Vogue, Bordighera 1982)
(Foto: Helmut Newton, Close-up, Italian Vogue, Bordighera 1982 © Helmut Newton Foundation)
Ansteckende Begeisterung
Matthias Harder - sein Job ist es nicht nur, in Berlin in der Helmut Newton Foundation wechselnde Ausstellungen zu kuratieren, sondern auch, das Werk in andere Städte und Institutionen zu bringen. Er hat es mit seinem Team geschafft, nicht nur Helmut Newton, sondern auch seine Frau June und beider Werk lebendig zu halten. "Es gibt viele Leute, die sich für Fotografie interessieren. Es gibt sogar welche, die extra deswegen nach Berlin reisen", erzählt er ntv.de bei einem exklusiven Rundgang. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs hängen noch nicht alle Exponate, die Zeit drängt ein wenig. Harder ist dennoch die Ruhe selbst und vollkommen überzeugt von dem, was sich im Museum tut. Seine Begeisterung ist ansteckend.
Durch das "vergleichende Sehen" zweier Bilder will er in dieser Ausstellung versuchen, die Menschen dahin zu bringen, Bilder von Newton immer wieder neu(gierig) zu betrachten, anders zu interpretieren. Und ohne damit auch nur einen Funken Spannung zu nehmen: Es gelingt! "Ich weiß, wir sehen immer mal wieder die gleichen Bilder von Newton, aber jetzt in einem völlig anderen Kontext. Darum geht es mir", sagt Harder.

Genau wie hier - Nase. (Helmar Lerski, ohne Titel, ca. 1935)
(Foto: Helmar Lerski, ohne Titel, ca. 1935, © Collection FOTOGRAFIS, Bank Austria Kunstforum Wien)
So viel sei verraten: Vor jedem Diptychon möchte man lange verweilen, seien nun Jack Nicholson oder Anjelica Houston zu sehen, Sigourney Weaver oder ein Unbekannter, eine Landschaft oder Architektur. Riesigen Anteil daran hat Matthias Harder, der mit seiner Erfahrung, seinem fotografischen Auge, seiner Kenntnis, Bilder gegenüberstellt, die so wirken, als gehörten sie schon immer zusammen. Dabei liegen manchmal 20, 50 oder über 100 Jahre zwischen der Entstehung der ausgewählten Fotos. Wir sehen den Blick auf die Seele, oder aus der Tiefe der Seele. Den Blick auf die Fassade, oder einen Blick aus dem tiefsten Innern. Die Bilder ähneln sich nicht immer sofort optisch, es sind oft nur Feinheiten, die sie zusammengehörig erscheinen lassen. Hat man sie entdeckt, geht das Gedankenkarussell los.
Welten dazwischen und doch so nah
Harder deutet auf ein Doppel aus den 60er - und eines aus den 80er-Jahren: Zwei Männer, einer ein junger Vietnamkriegsverfechter (der aber selbst nicht im Krieg ist), portraitiert von Diane Arbus, auf dem anderen Foto einer, der das Patriotische eher kritisch sieht: der amerikanische Künstler Ed Ruscha, fotografiert von Helmut Newton. Die gesellschaftspolitische Entwicklung ist klar zu erkennen, und doch schweifen die Gedanken beim Betrachten sofort ab in die heutige Zeit, in der wieder über Wehrdienst gesprochen wird und ein Krieg in Europa tobt.
Wir wandern weiter, zu Vivien Leigh und Anita Ekberg. Zwei berühmte Schauspielerinnen, bekannt für ihre ikonischen Rollen in "Vom Winde verweht“ und "La Dolce Vita". Leigh ist zu sehen auf einem "Pre-Filmstill", mit dem sie sich um die Rolle der Scarlett O'Hara bewirbt. Wir wissen, sie hat die Rolle bekommen und Filmgeschichte geschrieben. Sie sieht dramatisch ins Leere, und dennoch erkennen wir ihre Entschlossenheit, die sie später in ihrer Rolle unter Beweis stellen wird. Anita Ekberg hingegen schaut lasziv, fast provokant gelangweilt in Newtons Linse. Sie hat ihre erfolgreichsten Tage hinter sich, wird immer die sein, die im Trevi-Brunnen gebadet hat, das Busenwunder. Ihr Blick trifft ins Mark. "Das ist wirklich verblüffend, so intensiv und empathisch hat June eigentlich fotografiert, das ist eher der Stil von Helmut Newtons Frau: Komplett neutral, offen, direkt. So ein Porträt von ihm ist sehr selten", erzählt Harder, und seine Begeisterung überträgt sich.
Es ist schön, wieder einmal über diese beiden wunderbaren Frauen nachdenken zu können. Wie über so viele andere, berühmte und nicht berühmte Menschen, Musen und Modelle. Harder kennt die Story zu jedem Bild. Buchen Sie sich eine Führung, es lohnt sich!
"Ich kenne fast jedes Bild von Helmut"
Aber wie kam es nun zu der jetzigen Ausstellung? "Durch das Gespräch mit der Kuratorin Bettina M. Busse in Wien, als wir dort unsere Newton-Ausstellung aufbauten. Sie sagte: 'Wir haben hier übrigens auch eine schöne und interessante Sammlung'", erinnert sich Matthias Harder. Als er die Bilder dann gesehen hatte, stellte er in seinem Kopf sofort Querverbindungen her, welches Bild von Newton zu denen aus Wien passen würde. Die Idee, dass man das alles gegenüberstellen sollte, war geboren. "Die Bilder ploppten geradezu vor meinem geistigen Auge auf, denn ich kenne, würde ich sagen, fast jedes Bild von Helmut", so Harder.

Männer, die über eine Brüstung schauen. Aber wohin? (Frank Meadow Sutcliffe, "Excitement", um 1888)
(Foto: Frank Meadow Sutcliffe Excitement um 1888, Collection FOTOGRAFIS Bank Austria Kunstforum Wien, © Frank Meadow Sutcliffe)
Ab diesem Moment gab es kein Halten mehr: "Ich sehe im Sammlungskatalog ein Bild, auf dem Männer von hinten fotografiert sind, die in die Ferne schauen. Wir wissen nicht, was sie sehen, aber wir wissen, dass sie etwas sehen", erklärt er seine Denkweise. "Sofort fällt mir das Bild ein, auf dem Eva Herzigová mit dem Rücken zu uns steht und in die Ferne blickt. In einer ähnlichen bühnenartigen Situation, und auch hier wissen wir nicht, was sie sieht."
Die Männer posieren nicht, Eva Herzigová übertreibt ihre Pose hingegen regelrecht, wie es häufig bei Newton der Fall ist. Natürlich, das ist eine bewusste Modeaufnahme, das ist Zeitgeist. Und dann, in der Kombination, entsteht etwas, was eigentlich überhaupt nichts miteinander zu tun hat, was aber im vergleichenden Sehen endlos viel Raum für Interpretation lässt.

Frau, die über eine Brüstung schaut. Ebenfalls fragen wir uns: Wohin? (Eva Herzigova, Blumarine, Monaco 1995)
(Foto: Helmut Newton, Eva Herzigova, Blumarine, Monaco 1995, © Helmut Newton Foundation)
Gute Auswahl!
Newton hat nichts nachgestellt. "Er kannte die einzelnen Bilder garantiert nicht", so Harder. "Ich habe die Bilder aus Wien im Katalog angesehen und dann Bilder von Newton herausgepickt, die dazu passen könnten. Und dann habe ich mich peu à peu an die finale Kombination herangetastet, denn oft gab es mehrere Möglichkeiten." Bei bestimmten Motiven - "Frau guckt in Spiegel" beispielsweise - hätte er mehrere Möglichkeiten an der Hand gehabt, "weil es davon so viele Motive bei Newton gibt". Aber steht man nun vor eben jenem Doppel kann man nur sagen: Gute Auswahl. Ohne zu wissen, was die anderen gewesen wären.
Ist es eigentlich beruhigend oder eher das Gegenteil, dass manches sich nicht ändert: eine Landschaft, ein hoffnungsvoller Gesichtsausdruck, sogar die Mode, die auf uns so "vintage" wirkt, dabei aber aus einem anderen Jahrhundert stammt? "Die Natur währt länger als der Mensch, wie auch ein Gebäude, wenn es gut läuft." Harder verweist auf das Buch von Jean Pigozzi "A Short Visit to Planet Earth": "Wir sind hier nur zu Besuch, für durchschnittlich 80 Jahre werden wir ausgespuckt, und dann verschwinden wir wieder. Aber der Wald bleibt. Es sei denn, der Mensch greift ein." Auf den Fotos in der Helmut Newton Foundation können die Betrachtenden den Abgebildeten nah sein, etwas entdecken, was nur das eigene Auge sieht - Ähnlichkeiten zur Person, oder zum Jetzt.
Freizügig und verletzlich
Ich bleibe mit Matthias Harder wieder vor zwei Bildern stehen: Auf dem einen Edward Steichen, ein Wegbereiter der Fotografie des 20. Jahrhunderts, Direktor der fotografischen Abteilung des MoMA. Er hat die Zeitschrift Camera Work mitgegründet, die europäische und amerikanische Avantgarde miteinander verbunden, ab 1951 die "Family of Man-Ausstellung" für das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) konzipiert, die ab 1955 dort zu sehen war. Aus über zwei Millionen Fotografien wählten Steichen und seine Mitarbeiter damals aus tausenden Aufnahmen das aus, was sie für relevant hielten - ähnlich, wie Harder es jetzt getan hat. Steichen zeigt sich in der Ausstellung neben Helmut Newton mit Palette und Pinsel. Ein Foto, das den Fotografen also als Künstler darstellt, der seine Bilder bearbeitet.

Bereits 1964 kauften sich June und Helmut ein kleines Steinhaus in der Nähe von Ramatuelle, unweit von Saint-Tropez, wo beide künstlerisch höchst aktiv waren.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
"Man versuchte damals, das Medium Fotografie in der Kunst akzeptabel zu machen. Ihm an die Seite habe ich daher den nackten Helmut Newton gestellt. Das ist freizügig, aber auch verletzlich. 70 Jahre später. Newton zeigt sich als Fotograf mit seiner Kamera in der Hand, die man deutlich sieht, und Steichen zeigt sich interessanterweise nicht als Fotograf, obwohl er einer ist." Für Harder "the perfect match".
So nackt, so normal
"Die Spannung - wie bei allen anderen Bildpaaren auch - findet zwischen den beiden Rahmen statt. Es macht deutlich, wie die Fotografie sich sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt und auch freigeschwommen hat", ergänzt Harder.
Dass sich einer so nackt zeigt, ist selbst für die 80er-Jahre ungewöhnlich. Dann wurde es "normaler" - doch gehen wir jetzt nicht wieder in prüdere Zeiten? "Exakt", sagt Harder, "leider. June und Helmut haben sich ja oft nackt gegenseitig fotografiert. Vollkommen privat, ganz natürlich. Newtons Leben bestand aus Fotografie, aus Aufträgen: morgens für die "Vogue", nachmittags für den "Playboy", und dazwischen eben auch mal ein nacktes Selbstporträt," lacht er.
Newton hat alles fotografiert, auch Autos, Wohnen, Architektur, Landschaft, seit den Achtzigern immer zwischen Château Marmont und Côte d'Azur. Sehr viel für Yves Saint Laurent, sehr viel in Paris, immer kongenial, immer mit einem gewissen Raffinement. Und selbst, wenn die Bilder mal überbelichtet sind, wenn er einen falschen Blitz benutzt hat - bei Newton kommt es rüber wie eine neue Stilart.

Newton zog es schon lange zur mondänen Gesellschaft an die französische Riviera. (Grand Hôtel du Cap, Marie Claire, Antibes 1972)
(Foto: Helmut Newton, Jack Nicholson, Los Angeles 1985 © Helmut Newton Foundation)
Newton hat es geschafft. Damals, heute, das Kopfkino läuft. "Er drückt quasi auf einen Knopf in unserem Kopf, und dann geht's los. Er ist ein wahnsinnig filmischer Fotograf", erläutert Harder. Ja, tatsächlich - alle Fotos könnten Filmstills sein. "Er baute immer eine Bühne", weiß der Stiftungsdirektor. Dieses Kinematografische, das passiert hier in der Ausstellung. Inszenierung, Rollenspiel, Licht, Maske, alles kommt zusammen bei Newton. "Im Vergleich mit den besten Fotografen, die wir ihm hier gegenüberstellen, fragt man sich unweigerlich, ob er es nicht mit der ganzen Fotogeschichte aufnehmen kann", sinniert Harder am Schluss unserer Begehung. "Und, kann er?", frage ich. Dreimal dürfen Sie raten, was Matthias Harder darauf antwortet.
Die neue Doppelausstellung "Newton, Riviera | Dialogues. Collection FOTOGRAFIS x Helmut Newton" ist noch bis zum 15. Februar 2026 in der Helmut Newton Foundation, im Museum für Fotografie, in der Jebensstraße 2, gegenüber vom Bahnhof Zoo, zu sehen. Also gegenüber von dem Ort, an dem der 18-jährige Jude Helmut Neustädter seine Stadt 1938 verlassen hat, um vor den Nazis zu fliehen.
Quelle: ntv.de