Zwischen Porno und hinten Sex sells selbst Lebensmittel
23.07.2015, 13:05 Uhr
Edeka zeigt in der neuen Kampagne "Genussgesichter". (Screenshot)
(Foto: Youtube/Screenshot aus Genussgesichter)
Werbung, die erheitert, irritiert oder aufregt, bleibt im Kopf. Die üblichen Zutaten: nackte Haut, schräger Humor, krasse Typen. Zwei aktuelle Beispiele zeigen, dass die letzten Tabus fallen. So viel Emotion auf der Toilette und so viel Lust beim Essen war noch nie. Zufall oder Strategie?
Ein aktuelles Filmchen belebt die alte Werberregel "Verbotenes, Verpöntes, Verruchtes verkauft". Gemeint ist der fast schon kultverdächtige Imagefilm für Sanifair, das Tochterunternehmen der Tank & Rast GmbH, die rund 480 Raststätten-WCs in ganz Europa betreibt. Der Shitstorm - selten hat der Begriff seine Bedeutungsschwere so tief ausgelotet -, der seit Anfang der Woche im Web aufzieht, trägt Züge von Heiterkeit und Häme, bewegt sich kommentierend naturgemäß unter der Gürtellinie und spiegelt dabei die grundsätzliche Befremdung der Netzcommunity wider, das stille Örtchen mit derartig lauter Emotion aufgeladen zu sehen.
Schlechte PR ist gute PR
"Die Anforderungen für den Sanifair Imagefilm waren extrem hoch. Gott sei Dank half uns hier eine ganz bezaubernde 10-jährige Darstellerin aus der Patsche …", heißt es auf der Webseite der Agentur, die den Imagefilm produziert hat. Über Geschmack, und der kommt bei Fragen der Verdauung eben schnell an seine Grenzen, lässt sich bekanntlich trefflich streiten. Immerhin: Das Ziel, möglichst viele Menschen auf die Marke aufmerksam zu machen, dürfte erreicht werden. Bleibt abzuwarten, was das für den angestrebten Imageboost bedeutet. Am Ende gilt die zweite Regel aus dem Branchennähkästchen: Schlechte PR ist gute PR. Wie viel Kalkül steckt also hinter so viel naiv anmutender, klavieruntermalter Freude am Markenerlebnis?
Um das zu beantworten, lohnt sich der Schwenk von "verschwinden" zu "kommen". Ganz im Zeichen des lustvollen Genusses lädt seit dieser Woche der Lebensmittelhändler Edeka die Netzcommunity zum heiteren Ratespaß ein. "Erkennst du den Unterschied?", fragt die Seite Genussgesichter und meint damit: zwischen Essgenuss und Orgasmus. Zweideutig-eindeutige Filmchen zeigen Genussgesichter beim – tja, bei was genau? Kaum einer dürfte dem Reiz widerstehen, die Wahrheit sehen zu wollen und klickt sich schlau. Siehe da: Wo man ein köstliches Croissant hätte vermuten können, ist in Wirklichkeit ein handfester Orgasmus Auslöser des extatisch verklärten Gesichts, das der Webseite ihren Namen verpasst hat. Die eigentliche Überraschung jedoch ist, wie hier ganz nonchalant der Grat zwischen "Foodporn" und "Porn" aufgelöst wird.
Einfach alles supergeil
Das ist für eine durchaus angesehene Handelsmarke mutig. Schon der Kiffer-Spot aus dem Jahr 2013 ("Tüte?") und der virale Kult-Spot "Supergeil" mit dem Berliner Unikum Friedrich Liechtenstein aus dem letzten Jahr sorgten für massive Aufmerksamkeit im Netz und schließlich in der Welt 1.0. Weil man Pubertierendenhumor und musikalisch-bizarre Absonderlichkeiten eben nicht mit der vermeintlich konservativen Marke dahinter assoziieren würde. Virale Werbung ist die neue Doppelseite in der Heftmitte, weil sich damit Botschaften rund um die Marke transportieren lassen, die sonst nicht ohne Protest zur Prime Time über die heimische Flimmerkiste blitzen würden.
Supergeil ist also auch die neue Strategie. Im wahrsten Wortsinne. Auf dem Edeka-eigenen YouTube-Kanal yumtamtam schaffte der aktuell gefeaturete Schokokuchen mit flüssigem Kern innerhalb des letzten Monats nicht einmal ein Viertel der Aufrufe, die Genussgesichter innerhalb eines Tages auf den Zähler bringt. Mit über 117.000 Aufrufen darf man schon glauben, dass die Netzcommunity Freude an den ihr kredenzten Leck(er)bissen hat. Bleibt abzuwarten, ob dem WC-Filmchen die gleiche steile Karriere bevorsteht. Falls ja, war sicher alles Strategie.
Quelle: ntv.de