Panorama

Besetzung und Brandanschlag Wie ein Plattenbau gegen den Abriss kämpft

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Transparente hängen aus dem Plattenbau in der Habersaathstraße.

Transparente hängen aus dem Plattenbau in der Habersaathstraße.

(Foto: picture alliance / IPON)

Seit Jahren plant ein Investor, einen Wohnkomplex in Berlin abzureißen. Doch eine Handvoll Mieter weigert sich, auszuziehen. Ihre Nachbarn sind inzwischen Dutzende ehemals Obdachlose. Und sie alle stecken in einer Sackgasse.

"Man muss aufpassen, dass man nicht den Verstand verliert", sagt Daniel Diekmann und klingt dabei selbst nicht sonderlich überzeugt. Diekmann, Mitte 50, Dreitagebart, blättert durch einen dicken, schwarzen Aktenordner, in dem er abheftet, was ihm das Leben zur Hölle macht, was ihn zum Aufgeben bringen soll. Denn Diekmann hat einen mächtigen Feind: seinen Vermieter.

Die Wohnung, in der er seit 20 Jahren lebt, liegt in der Habersaathstraße in Berlin-Mitte, eine ruhige, unscheinbare Seitenstraße, direkt gegenüber sitzt der Bundesnachrichtendienst. Eine sogenannte Premium-Lage. Die Hausnummern 40 bis 48 bilden einen Komplex, der 1984 als Schwesternwohnheim der Charité gebaut und 2006 vom hochverschuldeten Berliner Senat für etwa 2 Millionen Euro an einen privaten Eigentümer verkauft wurde - ein Spottpreis.

2017 wechselte der Plattenbau mit 120 Wohneinheiten erneut den Besitzer, dieses Mal für 28 Millionen Euro. Ein stolzer Betrag, der sich nach Ansicht der neuen Eigentümergesellschaft, die Arcadia Estates, offenbar erst durch eine Praxis rentiert, die sich insbesondere in Großstädten häufig beobachten lässt: abreißen und neu bauen. Luxus statt Plattenbau.

Miete: "300 warm"

Denn was die Bewohner der Habersaathstraße für ihre teils sanierungsbedürftigen Wohnungen monatlich zahlen, ist nur ein Bruchteil dessen, was aktuelle Angebotsmieten auf dem Berliner Wohnungsmarkt erzielen. Diekmann, der auf 40 Quadratmetern wohnt und einen alten, unbefristeten Mietvertrag hat, zahlt "300 warm - und da sind alle Vorauszahlungen drin". Auf den einschlägigen Immobilienportalen finden sich in vergleichbarer Lage Angebote für das Sechsfache.

Gewissermaßen ist Berlin noch immer eine geteilte Stadt, gespalten in alte und neue Mietverträge. Sie zeugen vom Wandel einer Metropole, die mal für viele bezahlbar war und es für immer weniger wird. Und in der Habersaathstraße verdichten sich die Interessenkonflikte zwischen Vermietern und Mietern nicht nur, sie eskalieren.

Die Mehrheit der Mieter zieht zwar nach Abfindungszahlungen des Eigentümers aus, ein Teil aber will bleiben und klagt gegen den Abrissbescheid, darunter Diekmann. Prozess folgt auf Prozess, Demonstration auf Demonstration. Als ehemaliger Gewerkschafter und Betriebsratsvorsitzender wird Diekmann unfreiwillig, aber nicht ganz zufällig Sprecher der Interessensgemeinschaft Habersaathstraße, zum Aktivisten. Das macht ihn offenbar zur Zielscheibe.

"Ausziehen oder brennen"

Diekmann zeigt das Bild eines völlig ausgebrannten Autowracks, geparkt direkt vor der BND-Zentrale auf der anderen Straßenseite. "Mein Auto stand am helllichten Tag in Flammen. Zeugen haben einen Mann beobachtet, wie er mit einer Zigarette den Brandsatz entzündet hat." Das war 2018, ein Täter wurde nie gefasst, die Ermittlungen eingestellt. Zuvor hatte Diekmann Drohungen erhalten, auf seinem Volvo habe gestanden: "Ausziehen oder brennen".

Die Tat ist kein Einzelfall. In Diekmanns Aktenordner finden sich Bilder von zugemauerten Notausgängen und herausgerissenen Fenstern. Und von einem Mittwoch im August 2023, als plötzlich ein Munitionsbergungs-Fahrzeug vor der Habersaathstraße auffährt. Männer eines privaten Sicherheitsdienstes dringen in das Gebäude ein, verteilen Zettel über eine angeblich bevorstehende Räumung, tauschen Schlösser aus und zertrümmern Wohnungen. Das stellten Mitarbeiter des Bezirksamts bei einer Begehung fest. Diekmann sagt, sein Stromzähler sei herausgerissen und seine Wasserleitung gekappt worden.

Der Geschäftsführer der Eigentümerfirma bestritt damals, den Auftrag gegeben zu haben, Einrichtung zu zerstören. Er habe lediglich Schlösser austauschen und Wohnungstüren mit Platten verschließen lassen, damit diese nicht wieder "von irgendeinem neuen Obdachlosen belegt" werden.

Der ausgebrannte Volvo von Daniel Diekmann.

Der ausgebrannte Volvo von Daniel Diekmann.

(Foto: Privat)

Denn zu diesem Zeitpunkt leben zwar nur noch wenige Mieter in der Habersaathstraße, leer steht sie trotzdem nicht, zumindest nicht mehr. Filmaufnahmen aus dem Dezember 2021 zeigen einen Reisebus, organisiert von der Initiative "Leerstand Hab-Ich-Saath", in dem Partystimmung herrscht. Rund 50 Berliner Obdachlose sind im Begriff, die Habersaathstraße zu besetzen. Ein Jahr zuvor scheiterte ein erster Anlauf mit der umgehenden Räumung. Dieses Mal ist es anders: Der damalige Grüne Bezirksbürgermeister taucht auf und verkündet, die nunmehr ehemals Obdachlosen dürfen bleiben, bis die Zukunft der Habersaathstraße geklärt ist.

"Falls die Schläger vor der Tür stehen"

Einer von ihnen ist Andy, 38 Jahre alt. Er sitzt auf dem Bett seiner Zweizimmerwohnung ohne Strom und heißes Wasser und holt einen armlangen Holzkeil hervor: "Falls die Schläger wieder vor der Tür stehen." Der dünne, hochgewachsene Mann spricht langsam und mit Akzent. In der niederländischen Kleinstadt, in der er aufgewachsen ist, hat man ihm Schlimmes angetan, mehr will er nicht sagen. Als Jugendlicher traten erste "technische Störungen" auf, so nennt Andy die Anfälle, die sich anfühlen, als würde der Kopf explodieren. Andy hat das Borderline-Syndrom.

Irgendwann hielt er es in den Niederlanden nicht mehr aus. Über Umwege landete er vor vier Jahren in Berlin und auf der Straße. "Ich habe keinen Ausweis mehr, bekomme keine Sozialleistungen." Also geht Andy schnorren. Jeden Tag steht er am Alexanderplatz, stundenlang. "Das ist wahnsinnig anstrengend und unangenehm", sagt er. "Ich werde behandelt wie ein Stück Dreck."

Früher, als Andy noch neben 30 anderen unter einer Brücke am Alex übernachtet hat, nahm er sich bei seinen"technischen Störungen" ein Messer und ritzte sich die Unterarme auf. Heute krempelt er die Ärmel des schwarzen Fleecepullovers hoch und präsentiert die Narben wie ein Andenken an alte Zeiten. "Ich ritze mich kaum noch, seit ich hier wohne."

Eine ungewisse Zukunft

Andy und Daniel Diekmann verbindet, dass sie dieser ungewöhnlichen Nachbarschaftskonstellation angehören, die heute noch rund ein Dutzend Altmieter mit Mietverträgen und etwa 50 ehemals Obdachlose umfasst. Dazu kommen rund 150 Geflüchtete aus der Ukraine, die in einem Hotel in den Hausnummern 40 und 42 untergebracht sind.

Sie alle befinden sich in einer Pattsituation. Die Abrissgenehmigung für die Häuser ist inzwischen erteilt, allerdings erklären Gerichte die Kündigungen der Mieter immer wieder für unwirksam. Und solange die Alteingesessenen im Haus wohnen, dürfen auch die ehemals Obdachlosen bleiben, das hat ein Gericht bestätigt. Die Bewohner fordern einen Rückkauf durch die öffentliche Hand. Doch wie es weitergeht, weiß niemand.

Neben Andys Bett hängen die Hausregeln: keine Gewalt, Nachtruhe ab 22 Uhr, Teilnahme am Plenum. Bei den wöchentlichen Treffen versuchen die Hausbewohner, ihr nicht immer reibungsloses Miteinander zu organisieren. Nach Jahren auf der Straße sei es schwer, ein geregeltes Leben zu führen, sagt Andy. Einmal habe ein Ex-Obdachloser seine Wohnung angezündet. "Den mussten wir rausschmeißen." Und kürzlich zog ein Altmieter aus, weil der Nachbar über ihm andauernd einen Wasserschaden hatte.

Der frühere Obdachlose Andy lebt in einer Wohnung in der Habersaathstraße.

Der frühere Obdachlose Andy lebt in einer Wohnung in der Habersaathstraße.

(Foto: Privat)

Auch Probleme zogen mit ein

"Die obdachlosen Menschen wurden zu Beginn wohlwollend empfangen", sagt Daniel Diekmann. "Bis man dann festgestellt hat, dass der eine oder andere ein massives Alkohol- oder Drogenproblem hat, die Leute nachts rumgeschrien und Nachbarn bedroht haben." Diekmann glaubt auch an ein Kalkül der Eigentümergesellschaft, die der Besetzung zunächst wenig Beachtung geschenkt hat. "Die haben sich vermutlich gedacht: Vielleicht klappt es auf diesem Weg, die Mieter rauszuekeln. Ich muss leider zugeben, dass das teilweise gelungen ist."

Trotzdem will Diekmann bleiben, nicht um jeden Preis, aber fast. Die ständigen Gerichtsverfahren, die Unruhe im Haus, die Unsicherheit zehren an ihm, er hat hohen Blutdruck und Schlafprobleme. "Ich muss immer damit rechnen, wegen eines ominösen Dachstuhlbrands oder sonst was plötzlich auf der Straße zu stehen", sagt er. 50.000 Euro habe ihm der Eigentümer geboten, damit er endlich auszieht. Eine Beleidigung sei das, sagt Diekmann, nach so langer Zeit. "Ich habe denen gesagt: Ab 250.000 Euro kommen wir ins Gespräch". Er bekam keine Antwort.

Auch in die angebotene Ersatzwohnung im Stadtteil Gesundbrunnen will Diekmann nicht. Die sei viel zu klein, auf dem Grundstück habe er Ratten sehen. "Man muss ein Vollkornbrötchen abgeben und erhält ein vertrocknetes Toastbrot", so sieht Diekmann das. Für die ehemals Obdachlosen will der Eigentümer ein Wohnheim bauen, in einem Gewerbegebiet. Andy sagt, von Wohnheimen habe er genug, da gehe er lieber zurück auf die Straße.

Quelle: ntv.de

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