Panorama

Armut in der Pandemie "Wir werden die seelischen Folgen sehen"

217951348.jpg

Siggelkow stand auch in der Pandemie regelmäßig vor der Tür "seiner" Familien, zu Beginn noch ohne Maske.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Bernd Siggelkow ist an sozialen Brennpunkten einiges gewohnt. Doch in der Pandemie erlebte er "Kindheit am Rande der Verzweiflung". So heißt auch sein neues Buch. Arme Familien seien noch mehr allein gelassen worden, mit katastrophalen Folgen, sagt er im Interview mit ntv.de.

ntv.de: Es hieß immer, wir gehen alle zusammen durch die Herausforderungen der Corona-Krise. Gilt das auch für die sozial benachteiligten Familien, die Sie betreuen?

Bernd Siggelkow: Sie waren vielleicht als Familie zusammen, aber sonst waren sie schon sehr verlassen. Zumindest unsere Familien haben uns vom ersten Tag an gesagt, das Hilfesystem ist nicht mehr da, es gibt keine Ansprechpartner mehr. Die Tafeln sind zu, beim Jugendamt erreicht man nur im äußersten Notfall jemanden. Sie sind vergessen, noch mehr als vorher.

Was bedeutete das konkret?

Es hat sich ja keiner Gedanken darüber gemacht, dass die Kinder normalerweise in der Schule Mittag essen. Das Schulessen ist in Berlin kostenlos. Die Eltern hatten auf einmal eine Mehrbelastung, sie mussten kochen und auch mehr Geld ausgeben. Im ersten Lockdown waren durch die Hamsterkäufe alle günstigen Lebensmittel ausverkauft. Dann mussten die Leute in mehrere Geschäfte. Eltern mit drei oder vier Kindern hatten häufig das Problem, dass sie aus den Einkaufszentren rausgeflogen sind. Oder sie wurden an der Kasse angemault. Da gab es viel Frust.

Welche Hilfe konnten Sie den Familien und Kindern anbieten?

Unsere Einrichtung ist vor 25 Jahren gegründet worden, um Schutz und Paradies für Kinder und Familien zu sein. Jetzt mussten wir schließen. Weil wir beziehungsorientiert arbeiten, wussten wir aber, dass die Menschen Nähe und Beziehung brauchen. Distanz und Isolation führen zur Katastrophe und deshalb standen wir am ersten Tag des Lockdowns bei allen Familien und haben sie unterstützt. Vorher haben wir alle Telefonnummern abgeglichen. Für die Kinder, die kein Telefon hatten, haben wir innerhalb von einer Woche 150 Smartphones besorgt. Damit wir wirklich jeden erreichen können. Denn uns war klar, dass die häusliche Gewalt zunehmen würde, und wir schützen müssen.

Inzwischen weiß man ja, dass die Gewalt tatsächlich zugenommen hat, wie haben Sie das wahrgenommen?

Wir waren per WhatsApp 24 Stunden am Tag erreichbar und uns haben viele Hilferufe ereilt. Von den Menschen, mit denen wir sowieso regelmäßig zu tun haben. Wenn ich das hochrechne auf die, die niemanden als Ansprechpartner hatten, überrascht mich die Polizeistatistik nicht, die den Anstieg bestätigt hat.

Wie kommt diese Gewalt zustande?

Das beginnt damit, dass sechs oder sieben Personen auf 70 Quadratmetern leben. Keiner darf rausgehen, es gibt keinen Rückzugsort. Es sind also mindestens zwei oder drei Menschen in einem Zimmer. Es gibt keinen Ausgleich, keinen Sport- oder Spielplatz, der offen ist. Da gibt es Gewalt unter Geschwistern, weil jede Kleinigkeit zur Krise führt. Im dritten Lockdown durfte man nur einen Menschen zu sich nach Hause einladen. Wenn da drei Teenager sind, wer darf dann jemanden einladen? Kinder empfinden diese Ungerechtigkeit. Sie konnten sich auch nirgends aussprechen. Dazu kommt der Druck des Homeschoolings, oft ohne Computer oder Drucker. Wir hatten die Situation, dass eine Tochter versucht hat, ihre Mutter zu erwürgen. Oder uns haben Eltern angerufen und gesagt: Ich kann nicht mehr, mir rutscht gleich die Hand aus und ich will das nicht. Bitte helft mir.

Sie haben das Homeschooling schon angesprochen, wie lief das in den Familien, die sie betreuen?

Es wurden ja Tablets und Computer angekündigt, aber in den meisten Familien sind die bis heute nicht angekommen. Denn man hätte die Geräte beim Jobcenter abholen sollen, aber schon dort einen Termin zu bekommen, war eine Herausforderung. Dann war es schwierig, alle Anträge auszufüllen. Außerdem haben viele Familien kein schnelles Internet und können deshalb nicht alle Apps herunterladen oder drei Kinder gleichzeitig digital beschulen. Unsere Kinder und Familien können zum Teil nicht einmal eine E-Mail-Adresse ohne fremde Hilfe anlegen. Wer einen Computer hatte, ist dann oft mit einem USB-Stick in die Arche gekommen, um Arbeitsblätter auszudrucken. Wir haben sehr viel gedruckt. Das macht auch etwas mit den Menschen. Sie fühlen sich alleingelassen, haben kein Geld für diese Sonderausgaben wie Druckerpatronen oder Datenvolumen. Dabei ist es schon ein Privileg, sich darüber keine Sorgen machen zu müssen.

Es gibt ja diesen Einwand, dass diese Familien oft schon besonders unterstützt werden …

Kinderprojekt Arche

Die Arche wurde 1995 in Berlin auf Initiative von Pastor Bernd Siggelkow gegründet und engagiert sich besonders für Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen. Mittlerweile ist sie deutschlandweit an 27 Standorten aktiv und erreicht über 4.500 Kinder und Jugendliche. Alle Angebote sind kostenlos.

Ich frage mich, wie Menschen und deren Kinder von Transferleistungen unterstützt werden. Wenn damit das Bildungs- und Teilhabepaket von 150 Euro im Jahr gemeint ist, dann kostet beispielsweise Nachhilfe beim günstigsten Tarif 8,53 Euro. Bei dem Preis kann ein Kind maximal 20-mal im Jahr zur Nachhilfe gehen. Das Kindergeld ist zwar erhöht worden, aber auf der anderen Seite sind die Lebenshaltungskosten gestiegen. Lebensmittel sind 30 Prozent teurer geworden. Aber diese Familien haben nicht mehr Geld bekommen. Wenn die Dosensuppe statt 1,29 Euro nun 1,79 Euro kostet, hat ein Hartz-IV-Empfänger trotzdem nur 3,50 Euro pro Tag und Kind für Essen. Die Familien bekommen zwar die Schulbücher bezahlt, aber Materialien wie Hefte, Blöcke oder Stifte müssen sie selbst bezahlen. Und spätestens wenn am Jahresende die Abrechnungen der Energieversorger kommen, dann werden diese Familie wieder ein Problem haben. Wenn alle 24/7 zu Hause sind, steigt natürlich der Verbrauch und damit die Energiekosten. Das zahlt niemand, die Sätze sind die gleichen wie vorher.

Wie ging es Ihnen, wenn sie die Kinder gesehen haben?

Wir waren im Lockdown mindestens einmal in der Woche bei jeder Familie. Es gab viele rührende Szenen, weil wir die Kinder und die Kinder uns nicht mehr in den Arm nehmen durften. Das haben sie nicht verstanden. Sie sind mir auf den letzten Stufen in die Arme gesprungen und ich musste die Lebensmitteltüten fallen lassen, damit sie nicht die Treppe runterfallen. Als wir dann wieder für kleine Gruppen öffnen durften, war die Freude groß. Aber wenn sie maximal alle zehn Tage in die Arche dürfen, ist das für die Kinder immer noch eine große Herausforderung. Inzwischen dürfen wir mehr Kinder hereinlassen, aber immer noch nicht alle.

Welche Spuren hat diese Zeit bei den Kindern hinterlassen?

ANZEIGE
Kindheit am Rande der Verzweiflung: Die fatalen Folgen von Lockdown und Isolation
2
14,00 €
Zum Angebot bei amazon.de

Am sichtbarsten war es bei den Kindern, die innerhalb weniger Wochen mindestens 20 Kilogramm zugenommen haben. Sie sind kreidebleich und konnten nicht mal eine Minute auf dem Trampolin sein, ohne einen Schweißausbruch zu haben. Das liegt am Bewegungsmangel. Die Kinder sind gereizt und kommen schnell an ihre Grenzen. Das haben wir schon in den WhatsApp-Gruppen bemerkt, dass da schnell böse Worte fallen und es ein hohes Aggressionspotenzial gibt.

Wie versuchen Sie das wieder einzufangen?

Wir haben ja schon während Corona eine virtuelle Arche gegründet, wo wir jeden Tag eine Live-Show veröffentlicht haben. Dabei gab es Aktionen, bei denen die Familien Punkte sammeln konnten. Wir haben beispielsweise Backutensilien nach Hause gebracht, damit die Familien backen konnten. Vom Ergebnis sollte man Fotos schicken. Der Familie, die die meisten Punkte hatte, haben wir am Wochenende Pizzaservice bestellt. Da haben sehr viele mitgemacht. Inzwischen haben wir auch mit Ehrenamtlichen ein kostenfreies Nachhilfesystem aufgelegt, damit kann man lernen oder Hausaufgaben machen. Wir sind natürlich auch weiter bei den Familien, kommen an die Haustüren. Am liebsten würde ich aber in jeder Einrichtung einen Mitarbeiter einstellen, der in die Schulen geht und dort die Kinder unterstützt, die jetzt so weit abgehängt sind, dass sie dem Klassenverband gar nicht mehr folgen können.

Welche politischen Forderungen leiten Sie aus Ihren Erfahrungen ab?

Letztes Jahr habe ich gefordert, man sollte alle Lehramtsstudenten ins Schulsystem eingliedern, um die abgehängten Schüler zu fördern und die Lehrer zu unterstützen. Das hat Mecklenburg-Vorpommern als einziges Bundesland aufgegriffen. Aber wir müssen auch den Kinderschutz durchlässiger machen. Kinder müssen schneller und vor allem kostenfrei an Sorgentelefone kommen. Es kann nicht sein, dass ein Kind Guthaben auf seinem Handy haben muss, wenn es sexuell missbraucht wird. Auf jeden Fall müssen wir aber schaffen, in einer vierten Welle die Schulen geöffnet zu halten. Die Schule muss weiter stattfinden, die Kinder brauchen ihre Sozialpartner, die auch Probleme erkennen. Die blauen Flecke von vor drei Monaten sehe ich heute nicht mehr, aber wir werden die seelischen Folgen sehen und vielleicht auch die körperlichen Folgen der Gewichtszunahme. Es ist ein großer Fehler zu sagen, Kinder sind die Zukunft der Gesellschaft. Sie sind die Gegenwart. Was ich heute nicht investiere, kann ich morgen nicht ernten. Wir können es uns nicht leisten, dass die Kinder auf der Strecke bleiben.

Mit Bernd Siggelkow sprach Solveig Bach. Siggelkows Buch "Kindheit am Rande der Verzweiflung" erscheint am 30. August 2021 im Claudius-Verlag.

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen