Kritische Fehleinschätzungen BKA gesteht Schwachstellen im Fall Amri ein
05.11.2020, 18:53 Uhr
BKA Chef Holger Münch muss sich auch für seine eigenen Entscheidungen im Fall Amri rechtfertigen.
(Foto: imago images/Christian Ditsch)
Im Dezember 2016 tötet der Attentäter Anis Amri mit einem Lkw auf dem Berliner Breitscheidplatz elf Menschen. Bis heute liegt vieles noch im Dunkeln. Im Untersuchungsausschuss zu dem Fall wird klar: Die Behörden hatten das Gefährdungspotential Amris falsch eingeschätzt.
Knapp vier Jahre nach dem Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz ist die deutsche Polizei noch immer auf der Suche nach einem Tunesier, der den Attentäter Anis Amri per Chat aus dem Ausland angeleitet haben soll. Bis heute sei auch ungeklärt, wo sich Amri damals die Tatwaffe beschafft hat und wie er nach dem Anschlag aus der Hauptstadt fliehen konnte, sagt der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), Holger Münch, als Zeuge in einem Untersuchungsausschuss des Bundestages. Der Ausschuss geht der Frage nach, welche Behörden vor dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz womöglich wichtige Hinweise übersehen oder nicht weitergeleitet hatten. Der Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt habe verschiedene "Schwachstellen" in der Terrorabwehr offenbart, räumt Münch ein. Diese seien inzwischen größtenteils beseitigt.
Der abgelehnte Asylbewerber Anis Amri war den Behörden als radikaler Islamist bekannt gewesen. Er erschoss am 19. Dezember 2016 in Berlin einen Lastwagenfahrer. Mit dem Lastwagen raste er dann über den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche, wo weitere elf Menschen starben und Dutzende verletzt wurden. Der Tunesier floh nach Italien, wo er von der Polizei erschossen wurde.
Ein Schwachpunkt sei gewesen, dass man bei Islamisten wie Amri damals stärker auf die Wahrscheinlichkeit bestimmter Terrorszenarien und weniger auf die Gefährlichkeit des Einzelnen geschaut habe, sagt Münch. Er verweist auf den starken Anstieg der Ermittlungsverfahren zu radikalen Islamisten in den Jahren 2014 bis 2016. Und sagt: "Die verfügbaren Ressourcen der Sicherheitskräfte hielten mit der Dynamik der Entwicklung nicht Schritt."
Versagen an oberster Stelle?
Einige Mitglieder des Ausschusses sind der Auffassung, das BKA hätte die Ermittlungen zum späteren Attentäter an sich ziehen sollen, auch weil dieser in mehreren Bundesländern unterwegs war. Ein "formales Übernahmeersuchen" eines Landes habe es nicht gegeben, sagt Münch. Außerdem sei das BKA damals "voll ausgelastet" gewesen. Ein Kriminalhauptkommissar aus NRW hatte 2019 ausgesagt, ein BKA-Beamter habe ihm am Rande einer Besprechung beim Generalbundesanwalt im Februar 2016 gesagt, ein V-Mann des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes, der auf die Gefährlichkeit von Amri hingewiesen habe, "mache zu viel Arbeit".
Diese Auffassung werde auch von "ganz oben" vertreten, habe ihm der BKA-Beamte in dem Vier-Augen-Gespräch gesagt. Auf seine Nachfrage, wer mit "ganz oben" gemeint sei, habe der Beamte damals entweder das Innenministerium oder den damaligen CDU-Bundesinnenminister Thomas de Maizière selbst genannt sowie einen leitenden Kriminaldirektor des BKA im Bereich Staatsschutz. Von ihm sei eine solche Anweisung nicht gekommen, versichert der BKA-Chef nun.
Möglicher Mitwisser nicht ausreichend befragt
Kritik muss sich Münch im Ausschuss auch anhören, weil der Islamist Bilal ben Ammar, der Amri noch wenige Stunden vor dem Anschlag getroffen hatte, bereits wenige Wochen nach der Tat nach Tunesien abgeschoben wurde - vor allem weil bis heute nicht klar ist, wo sich Ben Ammar in den Tagen nach dem Anschlag aufgehalten hat. Er selbst habe für die Abschiebung plädiert, sagt Münch. Denn er habe damals keine Möglichkeit für eine Inhaftierung gesehen. Gleichzeitig habe das Risiko bestanden, dass er "erhebliche Straftaten begeht".
Als die Obfrau der Grünen im Ausschuss, Irene Mihalic, kritisiert, dass Ben Ammar bei zwei Vernehmungen durch das BKA nicht einmal gefragt wurde, wo er nach dem Anschlag war, räumt Münch ein: "Da haben Sie einen Punkt". Er hätte sich auch gewünscht, dass man ihm diese Frage gestellt hätte.
Nach Münch soll der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), Bruno Kahl, befragt werden. Am Abend will der Ausschuss außerdem Lutz Bachmann als Zeugen vernehmen. Der Frontmann der ausländerfeindlichen Pegida-Bewegung aus Dresden hatte nach dem Anschlag am 19. Dezember bei Twitter geschrieben, der Attentäter sei ein "tunesischer Moslem". Zu diesem Zeitpunkt war die Identität von Amri aber angeblich noch nicht einmal der Polizei bekannt. Nach offiziellen Angaben wurde sein Ausweis erst etliche Stunden später im Lastwagen gefunden. Bachmann soll jetzt erklären, wie er damals zu dieser Aussage kam. Sie könne nicht verstehen, warum sich die Polizei nie um die Klärung dieser Frage gekümmert habe, sagte Mihalic.
Quelle: ntv.de, jhe/dpa