
Ein Brexit-Gegner demonstriert in Brüssel.
(Foto: REUTERS)
Mit dem nahenden Brexit, der wahrscheinlicher erscheint denn je, nimmt die Nervosität der Briten zu, aus unterschiedlichen Gründen: Was, wenn die Rechnung nicht aufgeht? Wenn die Gewalt eskaliert? Und der Linksverkehr gegen die Wand fährt? Es könnte ungemütlich werden.
Winter is coming. Dieser Satz, der durch das Fernsehdrama "Game of Thrones" zum geflügelten Slogan für düstere, suboptimale Voraussetzungen geworden ist, hat das reale Leben eingeholt. Die Rede ist vom Leben im Vereinigten Königreich. Umfragen zeigen, dass der bevorstehende Winter vielen Briten Sorge und schlechte Laune bereitet. Die Ausgangslage ist tatsächlich nicht optimal.
Da sind zunächst die Nöte, die jeden Winter wiederkehren und die es schon gab, bevor man überhaupt Mitglied der Europäischen Gemeinschaft wurde. Jeder in Großbritannien, der nicht zu den wenigen zählt, die dämm- und wärmetechnisch nach nord- und zentraleuropäischen Standards wohnen (was teils durch die EU gefördert wurde), kennt die Probleme: schlechte Heizungen und beschlagene Fenster, die nur einfach verglast und miserabel isoliert sind. Millionen Briten überwintern mit denselben Kniffen. So wie sie als Kinder gelernt haben, eine Socke unter den tropfenden Wasserhahn zu legen, gehen sie mit Schal, Socken und Wollhemd ins kalte Bett, wenn es neben einem Fenster steht.
Den ganzen schönen Sommer hindurch mag man als glühender Verfechter des Brexit von "schweizerischen" oder "norwegischen Lösungen" geredet haben. Doch jetzt, wo der Winter kommt, ist es innerlich belastend, dass es daheim wieder kälter werden könnte als in jeder norwegischen oder schweizerischen Hütte. Mal abgesehen von den klima- und umweltpolitischen Nachteilen, mit denen gerade die progressiven Kinder nerven: War es vielleicht einfach dumm, nicht erst mit EU-Geld dafür zu sorgen, dass alles dicht ist, bevor man der Union den Rücken kehrt?
Nur Fischer und Banker gewinnen
Wären da wenigstens nicht auch die anderen Ängste, die man nicht einmal mit EU-genormter Isolierung beseitigen kann und die im Moment auch kein anderes Volk in dieser Weise plagen. Geht es um die globale Wirtschaft, kann es selbstverständlich jeden treffen, egal in welchem Land. Niemand ist vor der nächsten großen Rezession sicher, die Ökonomen schon seit einiger Zeit wittern. Doch in ihr lauert zugleich das nächste speziell britische Problem: Käme es in diesem Winter zu einem Crash, würde er im europäischen Vergleich in Großbritannien den größten Wertverlust mit sich bringen und auf einen Schlag viele Rentenmodelle und Wohlstandsfantasien zerstören. Dies ist übrigens auch das Resultat einer über viele Jahre sehr gut und vielleicht etwas heiß gelaufenen Wirtschaft, die dem Land mehrfach den Titel "Best Performer" in der EU einbrachte. Der Knick entstand 2015/2016 - ausgelöst auch durch die ersten Ängste wegen des Brexits. Und was, wenn gleichzeitig und ganz unabhängig von einer Krise das Wachstum in London am Ende ist und damit automatisch die Attraktivität der Hauptstadt nachlässt? Dabei sollte doch gerade nach dem 31. Oktober alles nur noch in eine Richtung gehen: nach oben!
Der Bammel ist den Menschen anzumerken. Während offiziell die Vision von einem weniger bürokratischen, steuerleichten, investitionsschwangeren Singapore-on-Thames verbreitet wird, wissen die Briten: Irgendeine Krise wird sie auf jeden Fall treffen. Die Regierung verspricht Bauern mehr Wohlstand, Händlern mehr Freiheiten und Produzenten neue Märkte. Doch wer wirklich in der Landwirtschaft tätig ist, im Handel und in der Produktion sowieso, hat große Sorgen.
Die einzigen Gewinner, die bisher zu sehen sind, sind die Fischer und die Banker, jeweils kleinere Gruppen der Bevölkerung, aber zugleich symbolträchtige. In ihnen kristallisiert sich die Geschichte der englischen Nation, die mit einem gewissen Mix aus Seefahrt und Gier - Piraterie genannt - sehr reich geworden ist. Boris Johnson hat es offiziell als "Buccaneering" bezeichnet, was so viel wie "Freibeutertum" bedeutet und für die Wiederentdeckung und Befreiung des "wahren Ich" - the real me - der Briten stehen soll.
Es klingt wie in einem herrlich pubertären Song der englischen Rockband The Who, die viel von der Unterdrückung und der Gängelei durch Autoritäten gesungen hat und davon, loszuschlagen und sich endlich zu wehren. Es war kein Zufall, dass Johnsons Rede auf dem konservativen Parteitag vorvergangene Woche mit dem Gassenhauer "Baba O'Riley" von The Who eingeleitet wurde: "Out here in the fields, I fight for my meals. I get my back into my living. I don't need to fight to prove I'm right. I don't need to be forgiven, yeah, yeah, yeah!"
Elizabeth II. ist wichtiger denn je
Doch was, wenn sich diese Befreiung als englischer Übermut entpuppt? Wenn die Rechnungen nicht aufgehen? Und wenn gar die Gewalt eskaliert, die im Moment in zwei unterschiedlichen Segmenten der Gesellschaft droht:
1. über und in Irland
2. am politisch rechten Rand
Nicht alle Engländer haben vergessen, dass ihre Hauptstadt vor dem irischen "Karfreitagsabkommen" Zentrum des Terrors war. Noch immer zeugen sogenannte "bomb curtains" in nicht wenigen Büros im Regierungsviertel von Westminster von einer Zeit, in der man sich nicht sicher sein konnte, dass einen nach einer Bombendetonation keine Fenstersplitter treffen.
Zugleich hat die politisch motivierte Gewaltbereitschaft auch ganz unabhängig von Irland zugenommen. Die Labour-Abgeordnete Joe Cox wurde im Juni 2016, dem Monat des Brexit-Referendums, von einem Rechtsextremisten ermordet. Noch nie wurde dermaßen viel über Faschismus in Großbritannien gesprochen und vor allem davor gewarnt. Eine neue Aggressivität und eine feindliche Sprache sind landauf, landab zu spüren - angefangen bei den Hassreden, die sich "Leaver" und "Remainer" gegenseitig liefern und die die Gesellschaft bis in die Familien hinein spaltet. Und apropos Spaltung: Das nächste Unabhängigkeitsreferendum in Schottland wurde schon angekündigt.
Und was, wenn über all diese unsicheren und ungünstigen Umstände hinaus in diesem Winter ausgerechnet die geliebte Königin geht? Sie selbst scheint sich weiterhin pudelwohl zu fühlen und auf ihr 70. Thronjubiläum Anfang 2022 vorzubereiten. Doch dann ist sie 96 Jahre alt und gemessen an den Lebenserwartungen politischer Spitzenkräfte ist das längst ein biblisches Alter. Ob ihr Sohn und Nachfolger Charles ihre einende und durchaus beruhigende, friedliche Kraft besitzt, wird allgemein bezweifelt. Er ist ein politischer Kopf, der die Meinungen spaltet. Ihr gelang es hingegen immer, in der vielfältigen wie auch stark zerklüfteten Gesellschaft eine gemeinsame Identifikation und Hoffnung herzustellen, wenn sie ansonsten schon verloren zu sein schien.
Trump und der Linksverkehr
Briten nennen die Verkettung unglücklicher Umstände "perfect storm". US-Amerikaner haben dafür ein derberes Wortbild: "When shit hits the fan": wenn Scheiße auf einen Ventilator trifft - dann fliegt sie unkontrolliert in alle Richtungen und bleibt überall ein bisschen hängen. Vor wenigen Tagen hat ausgerechnet Donald Trump noch ein bisschen Scheiße in den Ventilator geworfen, pardon: Öl ins Feuer gegossen. Im Zusammenhang mit einem tödlichen Verkehrsunfall, bei dem eine US-Amerikanerin mit ihrem Auto einen englischen Teenager erfasst hatte, benannte er das Problem kurzerhand damit, dass die Briten "auf der falschen Seite" führen.
In der Presse wurde diese Bemerkung rasch als Hinweis und womöglich als Angriff größerer Natur diskutiert. Was, wenn die Bedingung der Amerikaner für die weitere Zusammenarbeit darin besteht, dass man den Linksverkehr aufgibt? Und was, wenn dahinter womöglich wieder die Deutschen stecken? Ausgerechnet die Deutschen, die ihre Wiedervereinigung in nur neun Monaten mit vier unterschiedlichen Weltmächten durchverhandelt und besiegelt hatten. Großbritannien hat neun Monate benötigt, um einen Brief an die EU zu schreiben!
Deutsche Autohersteller haben jedenfalls schon häufiger vorgerechnet, wie sehr es sich für sie auszahlen würde, wenn der Verkehr alleine auf den britischen Inseln (inklusive Irland) von links auf rechts umgestellt würde. Bisher gibt es nur eine einzige Straße im gesamten Königreich, auf der rechts gefahren wird: die Einfahrt zum Hotel Savoy in London - damit die Gäste rechts aussteigen können und vom kalten Regen geschützt sind! So eine Straße wünschen sich gerade viele Menschen im Land.
Naivität auf beiden Seiten
Der Bammel in Großbritannien ist groß und keiner weiß, was passiert. Aber alle wissen, dass der Brexit nicht automatisch Heilung bringen wird. Man kann sich das so vorstellen: Ein Patient ist schwerkrank, er leidet gleichzeitig unter schwerem Reichtum und zermürbender Armut. Falls er die Behandlung überlebt, darf er in eine Kur. Der Brexit soll diese Kur sein, aber nicht die Behandlung. Und ob die Behandlung überhaupt möglich ist, steht in den Sternen.
Der allgemeine Wunsch besteht darin, dass es durch den Brexit wieder zu einem Effekt kommt, den ein (kleinerer) Teil der Bevölkerung in den vergangenen 30 bis 40 Jahren schon einmal erlebt hat. In diesem Zeitraum - zufällig seit der Mitgliedschaft in der EU - sind Immobilienpreise um das Zehn- und in den besten Gegenden manchmal um das Hundertfache gestiegen. Es wäre schön, wenn es in den nächsten Jahren wieder so einen Effekt gäbe. Unter den normalen Bedingungen einer auf Konvergenz, auf Kooperation und auf Verteilung ausgerichteten EU schien das unmöglich. Die Probleme - die Krankheit - sind hingegen hausgemacht. So scheinen sich immer mehr Briten langsam darüber klar zu werden, dass ihr Land weniger unter armer als vielmehr unter reicher Immigration leidet. Und damit hat die EU nichts zu tun.
Doch allen ist auch klar, dass es keinen Weg zurück gibt. Die Vorstellung einiger im Remain-Lager, dass sich Artikel 50, mit dem der Brexit ausgelöst wurde, einfach widerrufen lasse und damit alles beim alten wäre, ist naiv. Die Vorstellung der Brexiteers, dass man nach dem Austritt mit der EU dasselbe gute Verhältnis zu denselben guten Konditionen haben werde und leben - also wirtschaften - könne wie zuvor, ist ebenso naiv. Der Brexit hat schon jetzt viel zerstört. Er wird tiefgreifende Konsequenzen haben, im Inneren wie nach außen, die unumkehrbar sind und einen Rückschritt bedeuten.
"Get Brexit done!"
In den vergangenen Wochen fiel auf, dass selbst die Brexit-befürwortende Presse, allen voran der "Telegraph", der sich vernünftigen Argumenten gegenüber nie ganz verschlossen hält, vorsichtig skeptisch geworden ist und zumindest die unschönen Prognosen kritischer Wirtschaftsinstitute und Experten aufgegriffen und ernst genommen hat. In den Redaktionen, die über viele Jahrzehnte verantwortungslos gewettert, schwadroniert und gelogen haben, konnte man zwar keine Selbstkritik, aber auf einmal Anflüge von Vorsicht und Demut spüren.
Das bedeutet freilich nicht, dass man fortan für das Remain-Lager schreibt oder dass eingefleischte Leaver nun scharenweise das Lager wechseln. Viele wollen zu irgendeiner Form des Pragmatismus gelangen, um das Problem so schnell wie möglich zu lösen, ganz im Sinn der Regierungskampagne: "Get Brexit done!" Das Wichtigste ist, die viel beschworene Planungssicherheit zurückzuerlangen und den Bammel zu überwinden. Solange die Situation schwebt, schwelt auch die Angst. Und solange müssen sich die Brexiteers zumindest heimlich eingestehen, dass sie Schiss haben. Auf Englisch könnte man sagen: The Brexiteers have the jitters. Ihnen sollten wir jetzt zurufen: Keep calm and carry on, Brexjitters! Denn eines steht fest: Sie müssen stark sein und diesen Winter irgendwie überleben.
Quelle: ntv.de