Politik

Nach Sturm auf den Kongress Brasilien sucht seine Schuldigen

Am Montag demonstrierten im ganzen Land Tausende Menschen für die Demokratie - hier in Rio de Janeiro.

Am Montag demonstrierten im ganzen Land Tausende Menschen für die Demokratie - hier in Rio de Janeiro.

(Foto: Carsten Wolf)

Nach dem Sturm auf Regierungs- und Justizgebäude am Sonntag sucht Brasilien nach den Verantwortlichen. Hunderte Randalierer wurden festgenommen. Ex-Präsident Bolsonaro bestreitet jede Verantwortung. Gleichzeitig werden über Social Media immer mehr Details bekannt. Sogar Bolsonaros Neffe war bei den Ausschreitungen dabei.

Als die Soldaten kamen, klatschten die Protestierenden Beifall. Hunderte Anhänger von Ex-Präsident Jair Bolsonaro jubelten, als die Armee in ihr Camp in Brasiliens Hauptstadt einmarschierte. Der Militärputsch sei endlich da, auf den sie so lange gewartet hatten. Sie irrten sich. Die Soldaten waren gekommen, um sie zu verhaften.

Es sind Szenen wie diese, die zeigen, wie wahnhaft viele Bolsonaro-Anhänger sich immer noch auf der Seite des Guten wähnen - auch nachdem hunderte von ihnen am Sonntag das Regierungsviertel von Brasilia verwüstet hatten. Sie zertrümmerten Scheiben, prügelten auf Polizisten ein, legten Feuer, beschmierten Wände, zum Schluss kackten sie noch auf den Teppich. Und danach erwarteten sie eine Belohnung.

Wie durch ein Wunder wurde bei den Ausschreitungen am Sonntag niemand schwer verletzt. Aber der Sachschaden im Kongress, im Obersten Gerichtshof und im Präsidentenpalast ist enorm. Und das Land sucht jetzt die Schuldigen und überlegt, was man mit ihnen machen soll.

Der neue Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte es noch am Sonntag angekündigt: Inzwischen greift die Justiz hart durch. Rund 1500 Personen wurden zeitweise festgenommen, darunter etwa 300 Randalierer aus dem Regierungsviertel und 1200 Protestler aus Camps sowie Unterstützer und Finanziers. Ein Drittel ist seit Dienstag wieder frei, besonders Ältere, Frauen und Kinder. Bundesrichter Alexandre de Moraes kündigte an, sämtliche Protest-Camps im Land aufzulösen und mehrere Social-Media-Profile zu sperren.

Randalierer eine "bunte Mischung"

Aber nicht nur die Justiz sucht nach den Schuldigen - auch die User in sozialen Netzwerken. Viele Teilnehmende haben selbst Bilder und Videos von den Ausschreitungen gepostet. Das dürfte einigen jetzt zum Verhängnis werden. Auf neu geschaffenen Instagram-Profilen werden ihre Postings gesammelt und Protestteilnehmer identifiziert. Die juristischen Folgen davon sind unklar, aber die Liste liest sich wie eine "bunte Mischung" der Bolsonaro-Gemeinde.

Eine rechte Youtuberin, ein ehemaliger Big-Brother-Teilnehmer, ein wegen Dopings gesperrter Tennisspieler, Polizisten, Ex-Soldaten sowie Parteifreunde von Ex-Präsident Jair Bolsonaro - sie alle waren bei den Ausschreitungen am Sonntag in Brasilia dabei. Und auch Bolsonaros eigener Neffe, der Politiker Léo Índio, war dabei. Trotzdem lehnt der abgewählte Präsident weiter jede Verantwortung für die Ausschreitungen ab, so wie viele seiner Mitstreiter, und kritisiert sie als "Akte des Vandalismus".

Die Parallelen zum Sturm auf das US-Kapitol sind unübersehbar. Es ist bekannt, dass die Bolsonaro-Familie enge Verbindungen zu Trumps ehemaligem Chefstrategen Steve Bannon hat. Die Attacken wirken da fast wie eine Neuinszenierung, zwei Jahre und zwei Tage nach dem Sturm auf das US-Kapitol.

Und doch gibt es wichtige Unterschiede: Die Angreifer wählten einen Sonntag und trafen im Regierungsviertel auf menschenleere Gebäude. Politisch hatten sie keinerlei konkrete Ziele - die Amtsübergabe an den neuen Präsidenten Lula war bereits seit einer Woche vorüber. Bolsonaro hat die Ausschreitungen nicht unterstützt und ist außerdem seit zwei Wochen in den USA. Ihm dürften die Ausschreitungen wenig gebracht haben. Geblieben sind vor allem dramatische Bilder.

"Was wir am Sonntag gesehen haben, hat es so vorher noch nicht gegeben in Brasilien", sagte der Politikwissenschaftler Cláudio Couto von der Stiftung Getúlio Vargas der BBC. Zwar sei das Regierungsviertel schon 2013 und 2017 Ort von gewalttätigen Protesten gewesen. Aber damals hätten sich die Proteste gegen einzelne politische Maßnahmen gerichtet. "Dieses Mal war es ein Attentat gegen die Demokratie an sich."

"Der Bolsonarismus ist größer als Bolsonaro"

Und nun diskutiert Brasilien, wie es mit dem gescheiterten Angriff auf seine Regierung umgehen soll. Am Montag demonstrierten im ganzen Land Tausende Menschen für die Demokratie. In Rio forderten sie auf dem zentralen Platz Cinelândia eine harte Bestrafung der Randalierer und skandierten "Keine Amnestie!" für Bolsonaro und seine Mitstreiter. Im Gespräch mit einzelnen Demo-Teilnehmern zeigte sich ein differenzierteres Bild.

Alexandre Pereira

Alexandre Pereira

(Foto: Carsten Wolf)

"Ich glaube nicht an die Forderung 'Keine Amnestie!'", sagt zum Beispiel der 65-jährige Rentner Alexandre Pereira am Rand der Demo. Vor seiner Rente war er Angestellter beim staatlichen Ölkonzern Petrobras. Man könne ohnehin nicht alle Bolsonaro-Fans bestrafen. Deshalb solle man großzügig sein. Auch um eine weitere Radikalisierung zu vermeiden. Er weiß, dass knapp die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung für Bolsonaro gestimmt hat. Auch in seiner Familie, sei das so, sagt Alexandre. Es sei eine politische Notwendigkeit, sich nun wieder zu versöhnen.

Ludmila Melo

Ludmila Melo

(Foto: Carsten Wolf)

"Versöhnung ist unmöglich", sagt dagegen Ludmila Melo. Die 48-jährige Bankangestellte war schockiert von den Angriffen am Sonntag. "Aber wir haben erwartet, dass so etwas passiert. Seit der Wahl hätten Polizei und Militär die Camps von Bolsonaro-Fans viel zu lang geduldet. Vermutlich hätten viele mit ihnen sympathisiert. "Wir hatten Glück, dass unser neuer Sicherheitsminister Flávio Dino sich eindeutig gegen die Angreifer gestellt hat."

"Der Bolsonarismus ist größer als Bolsonaro", so Ludmila, "vielleicht wird der Ex-Präsident jetzt von diesen Ereignissen verschluckt werden." Aber der Bolsonarismus als rechtsextreme Bewegung in Brasilien wird bleiben. Deswegen seien harte Strafen wichtig. Auch sie habe viele Bolsonaro-Fans in ihrer Familie. Aber es gehe nicht nur um Meinungsunterschiede und soziale Fragen. Es gehe darum, ob man die Demokratie respektiert. "Und das sehe ich bei der anderen Seite nicht."

Quelle: ntv.de

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