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Gespräch mit Militärexperte Gady Dann kriegen die Soldaten eine SMS: "Kapitulieren Sie!"

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Ukrainische Soldaten feuern auf eine russische Stellung nahe Bachmut.

(Foto: picture alliance/dpa/MAXPPP)

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Hochmoderne Systeme wie Starlink sind unverzichtbar für den Krieg, zugleich fahren auf dem Schlachtfeld 40 Jahre alte Panzer. Wie geht das zusammen? Militärexperte Franz-Stefan Gady, Analyst beim Londoner Institute for International Strategic Studies (IISS), erklärt im Interview mit ntv.de, warum beim Kampf vieles im Verborgenen passiert, und was moderne Kriegsführung mit "Schnick Schnack Schnuck" zu tun hat.

ntv.de: Wie sehr schwächt es die ukrainische Kampfkraft, wenn SpaceX die Starlink-Nutzung einschränkt, vor allem, sobald Truppen die Frontlinie in russisch besetztes Gebiet überschreiten?

Franz-Stefan Gady: Natürlich kann es ukrainische Operationen erheblich beeinflussen, vor allem erschwert es die Durchführung von offensiven Operationen. Starlink ist in vielerlei Hinsicht die Lebenslinie für schnelle ukrainische Gegenschläge, da die Satelliteneinheiten es ermöglichen, sehr schnell das Gefechtsfeld aufzuklären und verschiedene Elemente und Einheiten miteinander zu koordinieren. Gepaart mit kommerziellen Kommunikations-Apps sind die Geräte zum Beispiel für die Zielerfassung der ukrainischen Artillerie enorm wichtig.

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Militärexperte und Politikberater Franz-Stefan Gady forscht am Londoner Institute for International Strategic Studies (IISS) unter anderem zu Kriegsführung der Zukunft.

(Foto: privat)

Wie läuft das ab?

Es geht um Folgendes: Wie schnell kann zum Beispiel die Panzerhaubitze ihr Ziel erfassen und bekämpfen? Dazu machen die ukrainischen Truppen sehr viel Aufklärung über Drohnen: Videos aus der Luft werden live zum Artillerie-Kommandoposten gestreamt. Dort kann der Kommandeur sehr schnell das Ziel mit Feuer belegen, der Vorgang läuft innerhalb weniger Minuten ab. Ohne Internet, ohne Mobilfunknetz würde das viel länger dauern. Am Ende kombiniert dieser Krieg alt und modern miteinander, das 20. Jahrhundert und das 21. Jahrhundert.

Gäbe es gute und schnell verfügbare Alternativen zu Starlink?

Ja, es gibt Alternativen. Die ukrainischen Streitkräfte verwenden schon jetzt andere Systeme als Back-Up. Wie schnell und in welcher Anzahl jene Alternativen lieferbar wären, ist jedoch schwierig abzuschätzen. Die Abhängigkeit von Starlink wird zumindest kurzfristig erhalten bleiben.

Truppen sind abhängig von Internet und Mobilfunk, zugleich wirken die Bilder vom Gefecht manchmal wie aus der Zeit gefallen: 40 Jahre alte Panzer stehen sich gegenüber. Herrscht auf dem Schlachtfeld noch 20. Jahrhundert vor?

Franz-Stefan Gady: Einerseits ist der Ukrainekrieg einer der bestdokumentierten Kriege, die wir bis dato erlebt haben - durch soziale Medien, durch direkte Verbindungen zu den Kampftruppen an der Front, durch Open Source Intelligence, also Nachrichten aus öffentlich zugänglichen Quellen. Andererseits ist der Eindruck, dass wir hier ein komplettes Bild des Krieges haben, eine Illusion.

Was bleibt uns - neben Systemen wie Starlink - noch verborgen?

Wichtige Funktionen der modernen Kriegsführung: Operationen im Cyber-Bereich, in der Luft-Domäne, im elektromagnetischen Spektrum können wir nicht über öffentlich zugängliche Quellen dokumentieren. Auch sollten wir nicht vergessen, dass beide Seiten einen Informationskrieg führen. Sie versuchen bewusst, die öffentliche Meinung durch kurierte Information zu beeinflussen.

Elektromagnetisches Spektrum - was umfasst das?

Kurz zusammengefasst geht es hier um elektromagnetische Wellen, Radarwellen, Radiowellen, aber auch Infrarotstrahlen. In der elektronischen Kampfführung dienen sie zur Erkennung, Täuschung, Störung und Degradation des Gegners, aber auch zum Schutz und zur Tarnung der eigenen Seiten. Im Detail lässt sich Kommunikation des Gegners etwa mit Störsendern oder auch durch falsche Signale unterbinden, damit Kampfeinheiten sich nicht mehr untereinander verständigen können. Die Kommandostrukturen werden so unterbrochen. Radarsysteme können feindliche Ziele anhand ihrer elektromagnetischen Signatur aufklären. Ein Ziel kann auch sein, verschlüsselte Kommunikation des Gegners aufzubrechen und mitzuhören. Das ist eine Seite des Krieges, von der wir als Außenstehende wenig mitbekommen.

Das, was wir mitbekommen, die Bilder von Panzern, die sich manchmal kaum von denen aus Kriegen vor 100 Jahren unterscheiden, zeigen also nur die Oberfläche? Darunter aber …

… ist es eindeutig ein Krieg des 21. Jahrhunderts. Das wird auch deutlich, wenn wir uns anschauen, welche große Rolle unbemannte Systeme spielen, Drohnen aller Art. Auch die Informationskriegsführung - über das Internet, über soziale Medien - ist eine ganz andere als in der Vergangenheit. Beide Seiten setzen in großer Zahl Waffen mit Präzisionsmunition ein.

Sie meinen etwa Marschflugkörper, die präzise ihr Ziel über große Distanzen angreifen?

Die sind ein Beispiel, aber es wird auch kombiniert: Herkömmliche Artilleriesysteme wie die deutsche Panzerhaubitze 2000 erzielen sehr gute Präzisionstreffer, wenn sie eingesetzt werden in Kombination mit Aufklärungsdrohnen. Das Bindeglied ist die Truppe, die beides anwendet. Trotz der modernen Technologie zeigt dieser Krieg, wie wichtig nach wie vor militärisches Training ist und vor allem der Einsatz der verbundenen Waffen.

Sie haben diesen "Kampf der verbundenen Waffen" im Podcast "Sicherheitshalber" mal am Beispiel von "Schnick Schnack Schnuck" erklärt.

Er ist tatsächlich eine mörderische Variante dieses Kinderspiels - "Schere - Stein - Papier".

Ich greife mit Papier an, mein Spielpartner holt den Punkt mit einer Schere. In der nächsten Runde bleibt mein Gegner bei Schere, ich kontere mit dem Stein.

Genauso wie Schere, Stein oder Papier hat jede militärische Einheit gewisse Schwächen: Einen Kampfpanzer kann die Gegenseite mit Panzerabwehrlenkwaffen oder per Drohnen von oben bekämpfen. Die Drohnen wiederum werden durch Flugabwehr ausgeschaltet, die Lenkwaffen mit Panzergrenadieren. Setzt also eine Seite in einem Krieg nur auf eine einzige Fähigkeit - nur auf Panzer, nur auf Jets - dann hat man nur Stein, nur Schere, aber kein Papier. Das macht die einzelne Einheit enorm verwundbar.

Die Lösung ist, verschiedene Fähigkeiten gebündelt einzusetzen …

… und das auf mehreren Kampfdimensionen: in Luft und Wasser, auf dem Boden, im elektromagnetischen Spektrum, im Weltraum, im Cyberspace. Dieser Kampf der verbundenen Waffen ist das Nonplusultra der modernen Kriegsführung und die Basis für alle zukünftigen NATO-Operationen und US-Militärdoktrinen, die neu konzipiert werden. Die USA nennen es "multi domain operations".

Das klingt sehr koordiniert. Gleichzeitig heißt es über die ukrainischen Truppen, sie würden fast anarchisch vorgehen - eine Brigade macht dies, die andere macht das, und zwischendurch schaut man, was erreicht wurde.

Tatsächlich ist die Kommandostruktur auf ukrainischer Seite viel dezentraler als bei den Russen. Darum ist es auch schwierig, allgemeingültige Aussagen über die ukrainischen Streitkräfte zu machen, sie als Ganzes zu bewerten. Es ist eine sehr diverse Kampftruppe, die viel ad hoc improvisiert. Aber sie ist durchaus zur Koordination im größeren Rahmen fähig.

Heißt das aber, der Kampf der verbundenen Waffen findet auf dem Schlachtfeld noch kaum statt?

Was wir bis jetzt gesehen haben: Keine der beiden Seiten beherrscht diesen Kampf der verbundenen Waffen wirklich gut. Das war ein Faktor, der zu den enormen Verlusten an Menschen und Gerät auf beiden Seiten geführt hat, weil Truppen und Gerät oft ungeschützt agieren. Die Ukrainer haben enorm dazugelernt und den Kampf der verbundenen Waffen in Ansätzen gezeigt, bei den Offensiven in Charkiw und Cherson.

Wenn wir mal perfektes Gefechtsfeld spielen: Wie könnte ein ukrainischer Angriff mit verbundenen Waffen aussehen?

Dann zeichnen wir mal den Angriff eines ukrainischen Panzer-Bataillons nach: Die greifen mit 30 Panzern eine russische Position an. Im Idealfall stehen im Raum dann auch Geparden, also Kurzstrecken-Flugabwehr, die sie vor Angriffen aus der Luft schützen. Die Geparden stehen in Kontakt mit der Panzerbesatzung und koordinieren den Einsatz.

Wer ist noch dabei?

Einige Kilometer weiter hinten stehen einige Batterien Steilfeuer-Artillerie, die die russischen Stellungen mit Feuer eindecken und den Vormarsch des Panzer-Bataillons unterstützen. Wenn die Artillerie zum Beispiel die erste gegnerische Stellung trifft und zerschlägt, dann können die Kampfpanzer durchrollen und sich auf andere Ziele konzentrieren. Gleichzeitig steht hinter der Artillerie noch eine Reserve, die - falls ein Durchbruch gelingt - diesen Durchbruch an der Frontlinie ausweiten kann. Die 30 Panzer brauchen aber auch Schutz vor russischer Infanterie, also vor Fußsoldaten, die mit Panzerabwehrlenkwaffen schießen.

Wer schützt die Panzer vor dieser Gefahr?

Diesen Schutz leisten die sogenannten Panzergrenadiere, mechanisierte Infanterie, also Soldaten, die zu sechst oder zu acht auf Schützenpanzern mitfahren und den Vorstoß begleiten. Wenn die Kampfpanzer an schwierige Engstellen kommen, wo gegnerische Infanterie sich verstecken könnte, dann springen die Grenadiere raus und bilden einen Schutzschirm um die Kampfpanzer. Dieses "Ballett" aus Flugabwehr, Kampfpanzern, der Artillerie und Schützenpanzern mit Grenadieren wäre ein klassisches Szenario im Kampf der verbundenen Waffen. Das ist noch erweiterbar.

Nur zu.

Im Frontsektor befindet sich auch eine Einheit für elektronische Kriegsführung und stört die Kommunikation der russischen Seite, sodass deren vorderste Linie plötzlich keinen Kontakt mehr zum eigenen Kommando hat.

Noch was?

Dazu kann auch Informationskriegsführung stattfinden, auf psychologischer Ebene. Zum Beispiel bekommen die russischen Soldaten an der Frontlinie plötzlich eine SMS auf ihr Handy, in der es heißt: "Sie werden gerade von der ukrainischen Einheit soundso angegriffen. Kapitulieren Sie!"

Mit Franz-Stefan Gady sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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