Politik

Scholz kann nur mahnen Darum ist Israel so sehr zur Offensive auf Rafah entschlossen

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Israelische Streitkräfte im Februar bei einem Einsatz im Gazastreifen

Israelische Streitkräfte im Februar bei einem Einsatz im Gazastreifen

(Foto: REUTERS)

Israels Ziel steht fest: Die Armee soll auch die vier noch verbliebenen Bataillone der Hamas auslöschen, und die verschanzen sich in Rafah. Können die Mahnungen von Kanzler Scholz und US-Präsident Biden die Flüchtlinge dennoch vor einer humanitären Katastrophe schützen?

Würde Olaf Scholz nicht mit einem Flugzeug der Luftwaffe reisen, sondern Linie fliegen, dann hätten den Kanzler bei seiner Ankunft in Israel als erstes 134 Geiseln "begrüßt", die noch immer in der Hand der Terroristen sind. Wer im Flughafen Tel Aviv den Weg vom Flugsteig zur Passkontrolle nimmt, schaut in all ihre Gesichter, Meter für Meter hängen Portraits der Entführten, lachende, oft junge Menschen. Etwa 30 von ihnen sollen nach Hamas-Aussagen nicht mehr am Leben sein, gestorben in Gefangenschaft.

Poster der von der Hamas Entführten im Flughafen Tel Aviv

Poster der von der Hamas Entführten im Flughafen Tel Aviv

(Foto: Niemeyer)

Die Botschaft Israels an jeden Ankommenden ist klar: Du betrittst jetzt ein Land, das nicht nur brutalste Verletzungen erlitten hat, sondern noch immer um die Rückkehr von entführten Landsleuten kämpft. Behalte das im Kopf. Doch so sehr man sich bemühen mag um Empathie, das Nachfühlen des Dramas, welches die Israelis seit dem Massaker vom 7. Oktober durchleben: Wie es sich lebt in einem Land, das kollektiv im Trauma steckt, sich geschunden fühlt, ist schwer zu ermessen.

Das mag der deutsche Kanzler im Kopf haben, wenn er auch jetzt, nach mehr als fünf Monaten Krieg im Gazastreifen und vielen Vorwürfen von Hilfsorganisationen wegen israelischer Hilfs-Blockaden noch immer als Erstes feststellt: Israel hat das Recht, sich gegen islamistischen Terror der Hamas zu verteidigen. Trotzdem stehen bei den westlichen Partnern Israels inzwischen Kritik und Mahnungen im Vordergrund.

Kritik, weil die Situation für die Zivilbevölkerung im attackierten Gazastreifen immer bedrohlicher wird. Experten für die Analyse von Nahrungskrisen sagen für die nächsten Wochen eine Hungersnot im Norden Gazas voraus. Mit extrem unsicherer Versorgungslage für Nahrung kämpft die Bevölkerung nach Analyse des Gremiums "Integrated Food Security Phase Classification" (IPC) im gesamten Gebiet. Die Hälfte der Bevölkerung befindet sich demnach schon jetzt in der schlimmsten Notlage.

"Gibt es andere Wege?"

"Egal, wie wichtig das Ziel auch sein mag: Kann es so schrecklich hohe Kosten rechtfertigen?", fragte Scholz am Sonnntagabend beim gemeinsamen Pressetermin mit Israels Premier Benjamin Netanjahu. "Oder gibt es andere Wege, dieses Ziel zu erreichen?"

Eine Frage, auf die nicht nur der Regierungschef seit fünfeinhalb Monaten routiniert antwortet, sondern auch Vertreter der Streitkräfte und Sicherheitsbehörden. Es scheint egal, wen genau man fragt, doch den Israelis scheint zunehmend wichtig, auch darzustellen, was bis zum 6. Oktober 2023 galt, dem Tag vor dem Hamas-Massaker mit 1400 Todesopfern.

"Da gab es keine jüdischen Siedlungen im Gazastreifen, keine israelischen Streitkräfte", zählt ein ranghoher Beamter aus dem Verteidigungsministerium auf. "Stattdessen stemmte Israel dort die Wasserversorgung, die Stromversorgung und Jobs außerhalb des Gazastreifens für mehr als 15.000 Palästinenser." Dass Israel in Reaktion auf Militärschläge der Hamas regelmäßig Luftangriffe gegen Gaza führte, bleibt unerwähnt. Die israelische Bilanz der Zeit vor dem Massaker lautet: In Nachbarschaft mit Gaza zu leben - das haben wir schon versucht. Und was war das Ergebnis?

Aus dem, was bis zum 6. Oktober galt, und dem, was am 7. Oktober geschah, speist sich darum auch der israelische Blick auf Zukunftsaussichten: Es gibt keine, solange es die Hamas noch gibt. Durch einen strengstens bewachten Grenzzaun von Palästinensern getrennt, unter denen noch Terror-Strukturen bestehen könnten, und seien sie auch noch so geschwächt, ist keine Option. "Sie sind in unsere Heime eingedrungen", sagt der Beamte. "Das darf nie wieder möglich sein." Die militärischen Fähigkeiten der Terroristen müssen ausgelöscht werden, so sieht es auch ein Großteil der Bevölkerung. In Umfragen sprechen sich 40 Prozent der Israelis sogar dafür aus, auf Befreiung der Geiseln zu verzichten, falls nur so die Hamas zu besiegen wäre.

Noch vier Bataillone sind übrig

Die Hamas auslöschen - aus Sicht der israelischen Streitkräfte (IDF) ist die Armee auf einem guten Weg zu diesem Ziel. Von 24 Bataillonen, die der Terrorgruppe zugeschrieben werden, hat man nach eigener Aussage 20 besiegt. Die restlichen vier sehen die IDF verschanzt im südlichen Rafah. Und nun ein dauerhafter Waffenstillstand? Nun aufhören, wie es westliche Unterstützerstaaten fordern? Für die meisten Israelis, und nicht nur solche, die dem Militär oder den Sicherheitsbehörden dienen, eine absurde Vorstellung.

Das Ziel sei weiterhin, "die verbleibenden Terroristen-Bataillone in Rafah zu eliminieren", sagte Netanjahu gestern in Richtung Olaf Scholz und aller anderen, die erwarten, dass Israel nach Alternativen zu Bodentruppen gegen Rafah sucht. Selbst wenn in den Verhandlungen, die seit heute wieder in Katar laufen, erstmals seit Wochen unter Beteiligung der Israelis, eine Einigung erzielt würde: Das Maximum, das die Hamas in Bezug auf die drohende Bodenoffensive herausholen kann, ist ein Waffenstillstand, vorübergehend.

"Eine Pause", so nennt es ein IDF-Major im Gespräch mit ntv.de. Und wenn sie auch sechs Wochen andauern sollte. "Mehr als eine Pause wird es nicht sein", sagt der Offizier. So sieht es auch die Regierung. Um Israel davon abzubringen, mit Bodentruppen auch noch die letzten verbleibenden vier Hamas-Bataillone auszulöschen, "müsste die Hamas die Waffen niederstrecken", heißt es aus dem Verteidigungsministerium. Eine Kapitulation also. Alles darunter ist aus israelischer Sicht nicht akzeptabel und würde bedeuten, dass die Offensive kommen muss.

Freilich ist Israel offiziell mit der humanitären Lage in Gaza nicht zufrieden. Aber die unzureichende Versorgung der teils hungernden Binnenflüchtlinge wird zu einem großen Teil der Hamas angelastet. Premier Netanjahu bekräftigte mit Blick auf leidende Zivilisten auch am Sonntag, eine Bodenoffensive in Rafah gehe Hand in Hand damit, der Zivilbevölkerung die Möglichkeit zu geben, den Ort zu verlassen.

Diese Aussage unterstreicht allerdings die Befürchtungen vieler, dass Israels Schutzmaßnahmen unzureichend sein werden. Eine Möglichkeit, Rafah "zu verlassen", wie Netanjahu sagt, bedeutet nicht mehr, als mit etwas Glück keine Maschinengewehrsalve abzukriegen, keinen Granatsplitter oder herabstürzende Häusertrümmer. Die Frage, woher man an Trinkwasser kommt, an Nahrung und eine Toilette, beantwortet sie nicht.

Den Spiegel vorhalten

Es geht um 1,4 Millionen Menschen, viele von ihnen sind schon einmal weggeschickt worden, aus dem Norden oder aus dem Zentrum Gazas. Ihr Schicksal dem militärischen Ziel gegenüberzustellen, darauf zu pochen, dass bei aller Verletzung und aller Bedrohung dennoch Menschlichkeit walten muss, das ist nun die Stoßrichtung der deutschen Regierung.

"Wir können keine Zukunft für Gaza, für den Frieden, für Israel haben, wenn die Terrororganisation, die sich dem Völkermord an uns verschrieben hat, intakt bleibt", sagt Netanjahu.

"Wir können nicht dabei zusehen, wie Palästinenser verhungern", sagt Scholz.

Eine rote Linie vor der Bodenoffensive in Rafah einzuziehen, wie es US-Präsident Joe Biden getan hat, ist nicht Scholz' Mission. Schließlich hat Deutschland auch kaum militärisches oder finanzielles Pfund, mit dem es wuchern könnte. Und das braucht man für eine rote Linie, wie Washington sie zieht. So versucht Scholz, Netanjahu den Spiegel vorzuhalten, zu vermitteln, dass es keine Option ist, die Zivilisten in Gaza ihrem Schicksal auszusetzen. "Das sind nicht wir. Das ist nicht, wofür wir stehen", fügt der Kanzler hinzu und meint Israel und Deutschland.

Mehr zum Thema

So aussichtslos das Plädoyer des deutschen Besuchers erscheint, verzichtbar ist es nicht. Denn auch wenn Netanjahu bei seiner Linie bleibt, zeigen Umfragen, dass die Bevölkerung in Bewegung ist. Im Januar sprachen sich 29 Prozent der Israelis in Umfragen für einen längeren Waffenstillstand unter anderem mit Geiselaustausch und Herausgabe palästinensischer Häftlinge aus. Nun im März sind es schon 33. Auch sie hören, was Scholz sagt.

Wie die 1,4 Millionen Menschen aus Rafah in andere Teile des Gazastreifens evakuiert werden könnten, daran arbeiten die IDF planerisch, so heißt es aus Militärkreisen. Wie sehr sie die humanitären Belange dabei berücksichtigen, entscheidet sich in diesen Tagen. Auch wenn der Kanzler keine Chance hatte, die Entscheidung zur Bodenoffensive zu beeinflussen, so mag seine Forderung nach Menschlichkeit nicht völlig ungehört verhallen. Bald könnte sich zeigen, ob Israel für Mahnungen empfänglich ist. Wenn die Soldaten die rote Linie in Richtung Rafah überschreiten.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen