Interview mit Michael Müller "Das ist das Corona-Dilemma"
25.12.2021, 09:00 Uhr
Nach sieben Jahren im Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin hat Michael Müller am 21. Dezember sein Amt an Franziska Giffey übergeben. Seit der Bundestagswahl im September ist der SPD-Politiker Bundestagsabgeordneter.
(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Pool)
Bis September war Michael Müller Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, dann Co-Vorsitzender. Die ständigen Durchstechereien aus der Runde haben ihn sehr geärgert: "Das zerstört Vertrauen - sowohl das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Politik als auch das Vertrauen innerhalb Runde", sagt Müller, der sein Amt als Regierender Bürgermeister von Berlin gerade an seine Parteifreundin Franziska Giffey übergeben hat. "Teilweise liefen Inhalte aus einem Wortbeitrag schon in den Medien, während der Kollege noch sprach."
Kritik, der Föderalismus sei zu schwerfällig für die Pandemie, lässt Müller nicht gelten: "Die notwendigen Maßnahmen sind immer beschlossen worden." Das Dilemma, in dem die Politik seit fast zwei Jahren stecke, sei: "Dass wir immer versuchen müssen, auf Basis der sich verändernden wissenschaftlichen Erkenntnisse einen Weg zu beschreiten, der allen gerecht wird. Das ist wahnsinnig schwer."
ntv.de: Herr Müller, in den Pressekonferenzen nach den Bund-Länder-Runden haben Sie immer sehr ruhig gewirkt, aber kann es sein, dass solche Sitzungen manchmal wahnsinnig nervend waren?
Michael Müller: Solche Sitzungen sind anstrengend, aber nervend sind sie nicht. Anstrengend sind sie schon wegen des Formats: Diese Sitzungen fanden als Videokonferenzen statt und gehen über Stunden. In der Corona-Pandemie sind wir mehr als dreißig Mal zu MPKen oder anderen Abstimmungsrunden zusammengekommen. Und wir hatten immer den Anspruch, die Dinge so zu regeln, dass es zu einer Entlastung kommt. Wegen der Mutationen mussten wir immer wieder nachschärfen. Das ist natürlich belastend.
Dann sind Sie erleichtert, dass Sie nun nicht mehr teilnehmen müssen?
Nein, diese Runden sind wichtig und auch in Nicht-Pandemie-Zeiten spannend und interessant. Die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten haben was zu berichten, sie haben gute Ideen. Belastend war, dass wir uns in den letzten zwei Jahren fast ausschließlich mit einem Thema auseinandersetzen mussten, das mit viel Leid verbunden ist. Denn das darf man nie vergessen: Es geht in der Corona-Politik nicht nur darum, ob ich eine Maske in der U-Bahn tragen muss oder nicht. Sondern schlichtweg darum, dass wir die Gesundheit und damit das Leben vieler Menschen schützen wollen.
Nach einer langen MPK wurde in der Nacht zum 23. März der "Osterlockdown" verkündet und einen Tag später wieder zurückgenommen; Bundeskanzlerin Merkel bezeichnete das Vorhaben als Fehler und entschuldigte sich. Woran ist der Osterlockdown gescheitert?
Wir hatten uns damals nach stundenlanger und nicht einfacher Diskussion auf einige Maßnahmen geeinigt. Die Einschätzung der Kanzlerin war, dass das nicht reicht - dass dies gute Bausteine sind, dass aber noch mehr passieren muss. So entstand die Idee einer Osterruhe. Diese Idee haben wir alle miteinander nicht zu Ende gedacht: Was das für die Lieferketten im Einzelhandel bedeutet und auch, wie die Menschen sich über die Feiertage versorgen können. Deshalb hat die Kanzlerin das korrigiert.
Lag es nicht vor allem an der Industrie, die keine zusätzlichen Ferientage akzeptieren wollte?
Dass die Unternehmen mehrere Tage Stillstand kritisch sahen, hat auch eine Rolle gespielt. Die Folgen für Logistik und viele Details, die daran hängen, haben wir alle nicht richtig in dieser Nacht eingeschätzt. Aber der entscheidende Punkt war, dass die Menschen nicht mindestens fünf Tage ohne ordentliche Versorgung dastehen sollten.
Statt des Osterlockdowns kam am 22. April die Bundesnotbremse - also einen ganzen Monat später. Kann es sein, dass die politische Architektur der Bundesrepublik gelegentlich überfordert war, schnell und adäquat auf die Pandemie zu reagieren?
Das sehe ich nicht so. Die notwendigen Maßnahmen sind immer beschlossen worden. Man muss berücksichtigen, dass wir deutschlandweit häufig sehr unterschiedliche Situationen hatten. Während in einigen Bundesländern in den Krankenhäusern schon eine krisenhafte Situation herrschte, war das in anderen nicht der Fall. Diese Unterschiede gibt es bis heute. Deshalb muss man immer wieder einen Mittelweg finden, mit dem alle Länder arbeiten können. Das ist nicht einfach. Aber unterm Strich, im internationalen Vergleich, sind wir nicht schlechter gefahren als andere.
Kann es sein, dass der Föderalismus dazu benutzt wird, um Verantwortlichkeiten zu verschleiern? Bei der Schließung der Impfzentren wurde die Verantwortung hin- und hergeschoben.
Nein. Berlin hatte sechs Impfzentren, zwei haben wir durchgängig offengelassen. Ja, das hat uns finanziell belastet, aber wir waren der Meinung, dass es wichtig ist, diese gut funktionierende Infrastruktur weiter aufrecht zu erhalten. Das hätten auch andere so machen können.
Aber der Föderalismus führt dazu, dass Wählerinnen und Wähler nicht wissen, wer verantwortlich ist, wenn es in ihrer Region in der vierten Welle keine Impfzentren mehr gibt.
Ich verstehe, dass die Bund-Länder-Beziehungen häufig schwer zu durchschauen sind und dass mitunter der Eindruck einer organisierten Unzuständigkeit entsteht. In den Flächenländern gibt es sogar noch die kommunale Ebene, auf der manchmal unklar ist, ob der Bürgermeister oder der Landrat zuständig ist. Aber für die Bürgerinnen und Bürger ist doch eigentlich wichtig, was sie vor Ort erleben und dass Maßnahmen gut funktionieren. Wer die Regeln beschlossen hat, die in ihrer Stadt, in ihrem Dorf gelten, ist nicht wirklich der entscheidende Punkt.
Wäre es nicht doch effizienter gewesen, das ganze Land hätte gleichzeitig die gleichen Fehler gemacht und diese dann auch gemeinsam korrigiert?
Im Grundsatz haben wir immer gemeinsam einen Weg beschlossen und umgesetzt. Etwa bei der Frage, ob es Einschränkungen an den Schulen geben muss. Angepasst an die Lage im jeweiligen Land wurde dann entschieden, ob alle Jahrgänge zuhause bleiben oder die Grundschüler und die Abschlussjahrgänge noch kommen sollten.
Aktuell pendelt die Debatte um Schulschließungen wieder zwischen "Durchseuchung der Kinder sofort stoppen" und "Schulen keinesfalls noch mal schließen". Ist die Schulpolitik in der Corona-Krise für die Politik das größte Dilemma?
Bei keinem anderen Thema sind so gegensätzliche Positionen so hart aufeinandergeprallt - und tun es bis heute. Beide Seiten sind ja auch nachvollziehbar. Manche Eltern sagen: Wir finden, es sollte eine Maskenpflicht geben und mein Kind macht das auch gerne mit. Das ist genauso legitim, wie wenn Eltern sagen: Mein Kind fühlt sich eingeschränkt und bekommt unter der Maske kaum Luft. Das ist das Dilemma, in dem die Politik seit fast zwei Jahren steckt: Dass wir immer versuchen müssen, auf Basis der sich verändernden wissenschaftlichen Erkenntnisse einen Weg zu beschreiten, der allen gerecht wird. Das ist wahnsinnig schwer. Mitunter ist nicht möglich, es allen recht zu machen.
Vor und während der MPKs sind in der Regel Beschlussentwürfe der Länder oder des Kanzleramts öffentlich geworden. Trägt so etwas dazu bei, in der Bevölkerung den Ernst der Lage zu vermitteln?
Nein, das ist einfach nur ärgerlich. Teilweise liefen Inhalte aus einem Wortbeitrag schon in den Medien, während der Kollege noch sprach. Das zerstört Vertrauen - sowohl das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Politik als auch das Vertrauen innerhalb Runde. Denn man braucht in solchen Beratungen die Chance, frei zu sprechen, Ideen durchzuspielen, die man hinterher möglicherweise wieder einsammelt, weil sie sich als untauglich herausstellen. Wenn alles öffentlich wird, nehmen wir uns die Freiheit, möglichst viele Varianten vernünftig durchzusprechen.
Haben Sie einen Verdacht, wer für die Durchstechereien verantwortlich war?
Das muss keiner aus dem Kreis der Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten gewesen sein. In der MPK sind teilweise über 70 Personen zugeschaltet - Pressesprecher, Referenten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Ministerialbeamte. Es waren nie nur die 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten und die Kanzlerin. Da können Sie nicht nachvollziehen, wer was durchgestochen hat.
Haben Sie sich auch außerhalb der MPKs mit anderen Länderregierungschefs beraten?
Natürlich haben wir uns vor allem mit Brandenburg abgestimmt. Wenn Ministerpräsident Dietmar Woidke Einschränkungen zum Beispiel im Einzelhandel vornimmt, hat das sofort Auswirkungen bei uns - und umgekehrt. Für uns war es auch immer besonders interessant zu hören, was Hamburg als zweitgrößte deutsche Stadt macht.
Schadet es der Akzeptanz von Corona-Maßnahmen, wenn sie zwischen den Bundesländern unterschiedlich sind? Wirkt es nicht seltsam, dass beispielsweise Brandenburg Weihnachtsmärkte verboten hat und Berlin nicht?
Das glaube ich nicht. Wir haben in beiden Bundesländern Einschränkungen beschlossen - aber jeweils an die Lage angepasst. Brandenburg hat eine deutlich höhere Inzidenz und entsprechend größere Schwierigkeiten in den Krankenhäusern. Dass dort strengere Regeln gelten, ist richtig.
Haben Sie eigentlich mal Markus Söder darauf angesprochen, warum er "Berlin" so häufig als Chiffre für Scheitern benutzt?
Das verschwimmt bei Markus Söder mitunter. Manchmal meinte er Bundesregierung und Bundestag, wenn er von "Berliner Verhältnissen" sprach. Aber er spricht natürlich auch häufig über die Stadt, um deutlich zu machen, dass er einen ganz anderen Weg geht als das große Berlin. Unterm Strich muss man aber sagen, dass er mit seinem Weg nicht erfolgreicher war. Eher im Gegenteil.
War es ein Fehler, dass die Ampel die epidemische Lage - die Basis für den Großteil der bisherigen Corona-Politik - nicht verlängert hat?
Diese Entscheidung war umstritten. Aber ich habe auch zu denen gehört, die sagten: Man kann Grundrechte nicht dauerhaft einschränken. Das ist für mich der entscheidende Punkt. Das verbirgt sich dahinter, dass wir die epidemische Lage haben auslaufen lassen. Auf der anderen Seite, wenn man alleine an die neue Homeoffice-Regel und 3G am Arbeitsplatz denkt, gab es dort auch wieder einschränkende Maßnahmen, die der Bundestag ermöglicht hat. Damit können die Länder gut arbeiten.
Warum hat es bis zur vierten Welle gedauert, bis 3G am Arbeitsplatz eingeführt wurde?
Die Situation im Sommer war nicht nur in der Politik so, dass viele dachten, durch den Impffortschritt kommen wir ohne größere Beschränkungen durch Herbst und Winter. Wir mussten nachschärfen, weil die Impfquote nicht hoch genug war. Das haben wir getan. Aber es hätte früher geschehen müssen.
Wagen Sie eine Prognose, ob wir noch mal einen allgemeinen Lockdown erleben werden?
Ich hoffe, dass wir keinen Lockdown mehr brauchen, und ich glaube, wir haben gute Chancen, ihn zu vermeiden. Aber wir werden noch über eine längere Zeit mit einschränkenden Maßnahmen leben müssen. Das beginnt mit der Maske, geht weiter über Hygienemaßnahmen und Abstandsregeln bis hin zu Kapazitätseinschränkungen bei Veranstaltungen.
Wie viel Schaden hat die Entscheidung angerichtet, die kostenlosen Bürgertests abzuschaffen?
Das hatte vor allem zwei Gründe. Zum einen sollte durchaus ein gewisser Druck ausgeübt werden, damit sich noch mehr Menschen impfen lassen. Zum anderen gab es auch die Meinung, dass die Gemeinschaft nicht länger für die Tests aufkommen sollte, wenn sich Menschen doch impfen lassen können. Die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, sollte nicht auf Kosten der Geimpften gehen. Im Rückblick hat das sicher nicht geholfen.
Kurz vor Weihnachten wurde Franziska Giffey zur Regierenden Bürgermeisterin von Berlin gewählt. Sie sind jetzt als Bundestagsabgeordneter Teil einer Fraktion statt Chef einer großen Verwaltung. Wie schwer ist Ihnen der Wechsel gefallen - und haben Sie sich schon mit Armin Laschet unterhalten? Der hat ja einen ähnlichen Wechsel hinter sich.
Ich glaube, für Armin Laschet ist es nochmal anders, weil er nicht nur sein Amt als Ministerpräsident aufgeben musste, sondern als Kanzlerkandidat auch eine Wahl verloren hat. Das ist für ihn jetzt sicherlich eine persönlich harte Zeit. Ich habe schon vor zwei Jahren entschieden, nicht mehr für den Landesvorsitz der Berliner SPD anzutreten und dann auch nicht mehr für den Posten des Regierenden Bürgermeisters. Insofern hatte ich einen langen Vorlauf, bis ich meinen Schreibtisch tatsächlich leerräumen musste. Ein bisschen weh tat es dann doch, als es so weit war.
Mit Michael Müller sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de