Politik

Psychologe Grünewald im Gespräch "Die AfD wird als ein Medikament mit starken Nebenwirkungen erlebt"

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Deutschland steckt in der Krise - und nicht nur in einer. Die Umstände spielen der AfD in die Hände, sagt Stephan Grünewald.

Deutschland steckt in der Krise - und nicht nur in einer. Die Umstände spielen der AfD in die Hände, sagt Stephan Grünewald.

(Foto: picture alliance / blickwinkel/McPHOTO/B. Leitner)

Warum findet die AfD so starken Zuspruch? Der Psychologe, Marktforscher und Buchautor Stephan Grünewald sieht vor allem ein Problem: das Gefühl festzustecken. Die AfD verspreche am ehesten einen Befreiungsschlag. Wie er das meint, erklärt er in seinem neuen Buch "Wir Krisenakrobaten" und im Interview mit ntv.de.

ntv.de: Herr Grünewald, Sie haben die CDU am vergangenen Wochenende über den Umgang mit der AfD beraten - haben Sie Kanzler Friedrich Merz gesagt, er solle in der Stadtbild-Debatte noch einen drauflegen?

Stephan Grünewald: Nein, die Stadtbild-Debatte war kein Thema. Ich habe über die Befunde berichtet, die wir in den vergangenen Jahren erhoben haben. Als Psychogramm der verunsicherten Gesellschaft.

Das ist auch der Untertitel Ihres neuen Buchs "Wir Krisenakrobaten". Wie blicken Sie auf diese Debatte? Ist sie wichtig, weil sie die Ängste der Menschen anspricht?

Stephan Grünewald ist Psychologe, Marktforscher und Buchautor. Mit seiner Agentur "Rheingold" erstellt er jedes Jahr Studien und führt etliche Interviews. Gerade ist von ihm das Buch "Wir Krisenakrobaten" erschienen.

Stephan Grünewald ist Psychologe, Marktforscher und Buchautor. Mit seiner Agentur "Rheingold" erstellt er jedes Jahr Studien und führt etliche Interviews. Gerade ist von ihm das Buch "Wir Krisenakrobaten" erschienen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Es gibt Ängste und handfeste Probleme. Wir beobachten gerade im öffentlichen Raum eine wachsende Verunsicherung. Das macht sich aber an mehreren Faktoren fest, nicht nur an einer wachsenden Zahl von migrantischen Bürgern. Es gibt auch eine gewisse Verwahrlosung im Stadtbild, wenn da Müll oder Spritzen von Drogenabhängigen herumliegen. Oder wenn es Leerstand gibt. Fast traumatisierend ist es, wenn zentrale Stellen der Daseinsvorsorge wegbrechen wie Krankenhäuser oder Polizeistationen. Es ist richtig, die Probleme anzusprechen. Gleichzeitig sollte man die Probleme nicht pauschal den Fremden zuweisen.

Sie sind Psychologe, Buchautor und Marktforscher. Mit Ihrem Institut Rheingold führen Sie jedes Jahr Tausende zweistündige Tiefeninterviews und ca. 200 Studien durch. Hat es Sie trotzdem überrascht, dass die AfD jetzt in Umfragen stärkste Kraft ist?

Die Grundkonstruktion in unserer Gesellschaft arbeitet der AfD in die Hände. Die Menschen erleben die verschiedenen Krisen als unwandelbar. Die haben eine Art Zombiequalität. Man hat das Gefühl, sie nicht in den Griff zu kriegen. In der Folge ziehen sich die Menschen ins private Schneckenhaus zurück. Zwischen Eigenwelt und Außenwelt spannt man einen Verdrängungsvorhang. Die Menschen gucken weniger Nachrichten, weil der Blick auf die Krisen sie verstört. Dadurch bekommen sie aber auch weniger mit. Zugleich wird die Vergangenheit verklärt, die gute alte Zeit.

Was selten stimmt.

Die Menschen scheinen sich eine Nachspielzeit zu wünschen, in der alles noch eine Weile so bleiben soll, wie es einmal war. Das ist also ein sehr konservatives Gefühl, im Wortsinn. Aufbruch, Optimismus, Innovation, all das fehlt. Ausgerechnet viele Jugendliche schwärmen uns gegenüber regelrecht von der Kanzlerschaft Angela Merkels. Viele fühlten sich wie von einer Mutter behütet.

War das so schlecht?

In dieser Zeit ist auch die Streitkultur erodiert. Viele haben gedacht, sie könnten alles dem alternativlosen Ratschluss von Frau Merkel überlassen. Dann kam die Ampel, die wurde aber nicht als streitend, sondern als zänkisch erlebt. Das ist ein psychologischer Unterschied. Streit ist produktiv, weil er einen Perspektivwechsel einleitend. Zank ist destruktiv, weil es nur darum geht, Bitterkeit abzusondern, den anderen klein zu machen und sein Mütchen zu kühlen.

Aber warum führt das dazu, dass mehr und mehr Menschen AfD wählen wollen?

Der Erfolg der AfD hängt mit dem beschriebenen Rückzug der Leute zusammen, der gesteigerten Selbstbezüglichkeit, sie drehen sich hauptsächlich um die eigenen Belange. Zudem schotten sich viele zunehmend in ihren sozialen Bollwerken ab. So erodiert auch im privaten Bereich die Streitkultur. Uns berichten immer mehr Bürger, sie sortieren anstrengende Menschen mit anderen Meinungen aus. Wer dann aber nicht mehr eingeladen wird, fühlt sich gekränkt, hat das Gefühl: "Die bürgerliche Mitte mag mich nicht". Sie suchen dann eine neue Heimat, etwa bei der AfD und kommen in einen Selbstkorrumpierungsprozess. Um die neue Heimat nicht zu gefährden, tragen sie Positionen mit, die ihnen eigentlich zuwider sind. Diese Rückzugsbewegung, diese soziale Abschottung, diese Verknappung des Zukunftshorizonts in Richtung einer Nachspielzeit, führt zu einer gestauten Bewegungsenergie. Das ist das zentrale Problem in der Gesellschaft.

Was meinen Sie mit Bewegungsenergie?

Die Menschen ziehen sich zurück, schotten sich sozial ab und kreisen um sich selbst. Die Energie zirkuliert nur im Privaten. Da gibt es immerhin noch Zuversicht. Aber die Bewegungsenergie dringt nicht nach draußen. Das führt zu dem Gefühl: Wir stecken fest, das Land steckt fest. So entsteht Unzufriedenheit und Wut. Verschwörungstheorien werden interessant.

Ist das so falsch? Ihr Zug hatte doch tatsächlich gerade Verspätung, wie Sie erzählt haben. Auch viele andere Dinge funktionieren nicht.

Natürlich gibt es echte Probleme bei der Bahn, auch Unterricht fällt aus, Kitas schließen früher. Das erleben die Menschen als eine Art Alltagssabotage. Die gestaute Bewegungsenergie sucht sich Ventile. Manche hauen auf Social Media wütende Kommentare heraus. Ich nenne das Affektmasturbation. Das ist Dampf ablassen. Oder sie führen Kulturkampfdebatten übers Gendern oder die richtige Ernährung. Das schafft kurzfristig Erleichterung, ändert jedoch an den großen Krisen nichts.

Auch wenn vieles im Argen liegt, muss ich doch nicht gleich Verschwörungstheorien glauben.

Verschwörungstheorien sind immer ein Versuch, diesem Feststecken einen höheren Plan zuzuweisen. Man definiert eine gottähnliche oder teuflische Macht, die das alles verschuldet hat. Das bedeutet dann auch, dass man diese Macht bekämpfen kann. So kann man Hoffnung schöpfen, dass sich noch alles zum Guten wendet. Außerdem wird man Teil einer verschworenen Gemeinschaft und man hat ein einfaches Muster die Welt zu erklären.

Merz wollte vor dem Sommer einen Stimmungsumschwung herbeiführen - war das zum Scheitern verurteilt?

Die Gesellschaft ist ambivalent. Einerseits gibt es die Sehnsucht, noch ein paar Monate Nachspielzeit des alten Lebens zu bekommen. Andererseits spürt sie: Wir stehen vor einem epochalen Umbruch, die Probleme werden immer größer. Das führt zu einer Sehnsucht nach einer Freisetzung dieser gestauten Bewegungsenergie. Wie kann man die kanalisieren? Der erste Schritt wäre, klar die Probleme zu benennen. Die Politik muss den Verdrängungsvorhang wegziehen.

Aber macht die Regierung das nicht? Die Gefahr durch Russland wird stark thematisiert, wir reden seit Jahren über die Überalterung der Gesellschaft, der Klimawandel ist ebenfalls bekannt. Die Probleme werden doch benannt.

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Die Probleme sind zwar bekannt, aber daraus resultieren noch keine Handlungsdirektiven. Als Merz Kanzler wurde, erwarteten viele, dass jetzt die Probleme angepackt werden. Aber statt entschiedenen Eingriffen erlebten die Menschen die Reaktivierung des Goldesels. Mit dem Sondervermögen wurde die Hoffnung genährt, dass die Dinge stabilisiert werden können, ohne dass wir uns verändern müssen.

Möchten die Menschen denn wirklich Veränderung?

Sie ist bereit zu einer Wende, wenn die Notwendigkeit erkannt wird – wie etwas vor drei Jahren bei der Energiekrise, wo die Gesellschaft zusammenrückte und zufriedener war. Da wurde die Bewegungsenergie kanalisiert. Da hatten die Menschen das Gefühl: Wenn wir jetzt nicht Energie sparen, sitzen wir im kalten Schneckenhaus. Das Sparen wurde als sinnvoll erachtet. Jeder hatte das Gefühl, mitwirken zu können. Man konnte am Thermostat oder der Armatur drehen und spürte so seine Selbstwirksamkeit. Die Bemühungen waren auch gerecht verteilt. Die Nachbarn machten auch mit und selbst die Industrie fuhr ihre Produktion herunter und die Politik organisierte die LNG-Terminals. Doch dann verpasste es die Politik, diesen Erfolg zu feiern und den Menschen ihr Potential zu spiegeln, ihnen zu zeigen, wie stolz man darauf ist, das gemeinsam geschafft zu haben.

Was könnte heute so eine Kraftanstrengung sein? Nehmen wir das Haushaltsloch. Merz sagt, wir sollen mehr arbeiten, uns mehr anstrengen. Reicht das?

Nein, eine braucht spürbare Konsequenzen für alle, wie zumindest den Wegfall eines Feiertages. Die Herausforderung der Regierung ist es zwei, drei Projekte zu definieren, aus denen konkrete Handlungsdirektiven abgeleitet werden. Die Menschen priorisieren drei Themen. Die hohen Mieten, die marode Infrastruktur, die den Alltag sabotiert, und die die Daseinsvorsorge: Rente, Pflege und Gesundheit liegen im Argen.

Gerade bei diesen Themen versucht die Politik ja einiges. Es gibt den Bauturbo, das Sondervermögen soll die Infrastruktur instand setzen und es soll auch eine Rentenreform geben. Dabei gibt es für Bürger doch gar keine Möglichkeiten, mitzumachen.

Ich habe auch kein Patentrezept. Trotzdem ist die Herausforderung, eine richtungsgebende Geschlossenheit zu entwickeln, die die Menschen konkret einbezieht. Wenn sich das Bild verfestigt, dass es nur einige Korrekturen gibt, sich aber die Gesamtlage nicht ändert, kommt die AfD wieder ins Spiel. Solange die Bürger keine Selbstwirksamkeit spüren und das Gefühl haben, das Land steckt fest, wird die AfD Zulauf haben. Sie verspricht dann der Korkenzieher zu sein und verheißt eine Befreiung aus den gestauten Verhältnissen. Sie muss das gar nicht einlösen. Es reicht ihr, eine Projektionsfläche hinter der Brandmauer zu sein. Die AfD wird als ein Medikament mit zwar starken Nebenwirkungen erlebt, das dann als Notlösung zum Einsatz kommt, wenn die etablierten Medikamente keine Wirkung mehr zeigen.

Aber sie bietet ja nur Scheinlösungen an. Ausländer raus, Ukraine fallen lassen, zurück zur Atomkraft. Das wird alles nicht passieren oder andere noch größere Probleme auslösen.

Das wissen oder ahnen auch viele AfD-Wähler. Aber weil die AfD nicht an der Regierung beteiligt ist, kann sie ja auch nichts anrichten. Sie fungiert so als Ventil für vieles, was sich bei den Bürgern aufgestaut hat.

Wie gehen Sie mit diesen multiplen Krisen um? Was für eine Haltung kann man als Mensch entwickeln?

Es ist wichtig, die soziale Brandmauer zu durchbrechen. Wenn wir privat nicht mehr im Gespräch sind, sondern alle aussortieren und canceln, die anstrengend sind und eine andere Meinung haben, dann erodiert die Demokratie. Dann wird sich die Gesellschaft immer stärker polarisieren und in ihren Silos radikalisieren. Ich spreche von der Silodarität, die die Solidarität ablöst. Mut macht mir aber das Märchen von den Bremer Stadtmusikanten.

Wie das?

Für einen Aufbruch braucht es ein Ziel. In dem Märchen ist es die Zuversicht, etwas Besseres als den Tod zu finden: In Bremen wollen die vier Tiere gemeinsam Stadtmusikanten werden. Für den Aufbruch ist es dabei gar nicht wichtig, ob man das Ziel letztlich erreicht – die Tiere sind ja nie in Bremen angekommen. Aufbruch in Verbundenheit gelingt, weil alle vier Tiere ihre Schwächen und Unvollkommenheiten einbringen. Gerade weil sie nicht behaupten, perfekt zu sein, sind sie sozial. Sie sehen die anderen als Ergänzung oder Erweiterung. Weil sie, obwohl sie grundverschieden sind, aufeinander bauen und vertrauen, bilden sie eine wirkmächtige Gestalt, die größer ist als die Summe ihrer Mitglieder. So schaffen sie es als Schicksalsgemeinschaft, über sich hinauszuwachsen, sich bezahlbaren Wohnraum zu erobern und sich eine Perspektive zu geben.

Also müssen wir unser Bremen finden.

Es ist wichtig, dass die Politik ein Ziel ausgibt, wie wir das in der Energiekrise erlebt haben. Ohne Ziel kein Aufbruch. 89 Prozent der Menschen haben das Gefühl, wir sind eine entzweite Gesellschaft. Es gibt jedoch eine große Sehnsucht nach Verbundenheit. Aber die braucht gemeinsame Projekte und das Vertrauen in den anderen.

Mit Stephan Grünewald sprach Volker Petersen

Quelle: ntv.de

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