
Wechselstimmung? Gewechselt wird im Kanzleramt ohnehin.
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Noch nie gab es so viele Umfragen wie vor dieser Bundestagswahl. Nicht alle sind seriös. Im schlimmsten Fall werden Stimmungen nicht abgebildet, sondern erst durch Umfragen gebildet.
128 Wahlumfragen haben die acht führenden Meinungsforschungsinstitute in diesem Jahr bereits erhoben und mit ihren Medienpartnern veröffentlicht. So viele gab es in den ersten sechs Monaten eines Wahljahres noch nie. Längst hat sich die Zahlenflut über die klassische "Sonntagsfrage" und K-Frage hinweg ausgeweitet. Letzten Freitag etwa verkündete "Bild TV" sichtlich zufrieden "eine Baerbock-Angst in Deutschland".
Bei der zugrunde liegenden INSA-Umfrage sollten die Befragten angeben, ob sie folgender Aussage zustimmen oder nicht: "Ich habe Angst davor, dass mit Annalena Baerbock eine Grüne Kanzlerin werden könnte." 49,7 Prozent stimmten zu. Abgesehen von dem ohnehin unspektakulären Ergebnis - bei der K-Frage kommt derzeit niemand über 25 Prozent - gibt es bei einer solchen Fragekonstruktion eine ganze Reihe methodischer Probleme. Das wichtigste: Ein zentraler Grund für "Antwortverzerrungen" in der Meinungsforschung sind einseitig formulierte Aussagen, die nach Zustimmung oder Nicht-Zustimmung fragen.
Insbesondere wenn die Anti-These in der Frageformulierung zur kognitiven Ausbalancierung fehlt, neigen Menschen zur Zustimmung. Anders gesagt: Hätte man die Aussage semantisch umgedreht ("Ich habe keine Angst davor, dass mit Annalena Baerbock…") wäre ebenfalls eine mehrheitliche Zustimmung zu erwarten. Einem Proseminar in sozialwissenschaftlicher Methodenlehre hätte diese Frageformulierung nicht standgehalten. "Bild TV" machte daraus indes "die nächste Schock-Umfrage für Baerbock". Allein dieser Satz legt nahe: In erster Linie geht es offenbar um eine Erzählung ("Absturz der Grünen"), die man um eine neue Episode erweitern wollte.
Wechselstimmung?
Diese Verstärkung eines bestimmten Narrativs gab es zuvor in anderer Richtung: Mitte Mai, als die Grünen zwischenzeitlich vor der Union lagen, machte die Schlagzeile "Wechselstimmung auf Rekordniveau" die Runde. Hintergrund war eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung, bei der gefragt wurde, ob es gut oder nicht gut wäre, "wenn die Bundesregierung in Berlin wechseln würde". 61,5 Prozent fanden das gut. Vollkommen unklar ist allerdings, was mit "Wechsel" in dieser Frage gemeint ist, folglich noch unklarer, was die Befragten bei der Beantwortung darunter verstanden haben. Die Kanzlerin wird sowieso wechseln, die Regierungskoalition sehr wahrscheinlich auch. Ob die Befragten einen Wechsel der das Kanzleramt bekleidenden Partei befürworten, ist Spekulation. Diese Deutung passte aber eben in die damalige Geschichte vom "Höhenflug" der Grünen.
Mit dem politikwissenschaftlichen Lehrbuch in der Hand könnte man nun einwenden: Alles halb so wild, von Umfragen allein lässt sich kein Wähler beeinflussen. Tatsächlich gibt es kaum empirische Belege über direkte Effekte von Umfragen auf die Wahlentscheidung. Allenfalls Hypothesen, wie jene vom "Mitläufer-Effekt", wonach Wähler sich auf die abzeichnende Gewinnerseite schlagen würden. Oder die These vom "Underdog-Effekt", die das Gegenteil behauptet.
Indirekt nehmen Umfragen aber sehr wohl einen Einfluss. Zum einen beeinflussen sie das strategische Wahlverhalten. In diesem Fall gibt ein Wähler statt der "Lieblingspartei" einem Mitbewerber seine Stimme, weil er es auf ein bestimmtes Gesamtergebnis abgesehen hat. Das könnte wie bei den sogenannten "Leihstimmen" die Ermöglichung einer bestimmten Regierungskoalition sein oder aber die Beeinflussung der Entscheidung um Platz 1. Letzteres war Anfang Juni bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt zu beobachten: Zwei Institute hatten im starken Kontrast zu anderen Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD orakelt, das es in Wirklichkeit nicht gab. Doch der Eindruck, verstärkt durch entsprechende Schlagzeilen, führte dazu, dass die CDU massenhaft "AfD-Verhinderungsstimmen" von Anhängern anderer Parteien verbuchen konnte. Offenbar hatten die zwei Institute keine Stimmung abgebildet, sondern eine Stimmung selbst gebildet.
Entsachlichung prägt diesen Wahlkampf
Der zweite Effekt der Zahlenschlacht schlägt sich in der öffentlichen Debatte nieder. Wahlumfragen sind Rituale der Mediendemokratie: Selbst kleinere Verschiebungen in den Daten werden mitunter als "deutliche Zugewinne" oder "Absturz" vermeldet. Angesichts der Fehlertoleranz von plus und minus zwei bis drei Prozent, also einem Korridor von insgesamt vier bis fünf Prozentpunkten, können solche Veränderungen in den Daten in der Realität auch eine Verschiebung in die ganz andere Richtung sein.
Wahlkampfberichterstattung wird oft mit Sportberichterstattung verglichen: Wer liegt vorne? Wer steigt ab? Wer holt auf? Angesichts der Umfragen-Inflation in diesem Jahr erinnert die Berichterstattung mittlerweile mehr an die Nachrichten von der Börse. Umfragewerte werden tagesaktuell, nahezu wie Aktienkurse berichtet. Sprünge nach oben werden rasch zu Hypes, die so schnell vergehen, wie sie gekommen sind. Wie bei Aktien sind die Menschen auch bei Parteien wechselfreudiger geworden, die Schwankungen liefern den Stoff für Schlagzeilen, die zu einer Art Jojo-Berichterstattung führen. Es geht hoch, dann wieder runter. Was bei diesem Fokus in der Debatte auf der Strecke bleibt, sind die inhaltlichen Auseinandersetzungen.
Entsachlichung prägt den bisherigen Wahlkampf. Welche richtungsweisende und zukunftsrelevante Debatte hat es bislang in diesem Wahlkampf gegeben? Eben. Vielleicht sollte man genau diese Frage einmal den Menschen stellen. Oder noch besser: Über welche Themen sollte in diesem Wahlkampf mehr in der Öffentlichkeit debattiert werden? Das wäre tatsächlich eine Umfrage wert. Sie könnte der Auftakt zu einem sachlicheren Wahlkampf sein.
Quelle: ntv.de