Reisners Blick auf die Front "Die Gefahr eines russischen Durchbruchs ist massiv"
04.03.2024, 18:46 Uhr Artikel anhören
Der österreichische Oberst Markus Reisner warnt im Interview mit ntv.de vor einem baldigen Durchbruch der Russen an der Front. Im schlimmsten Fall könnten sie bis zum Fluss Dnipro durchmarschieren. Beim Taurus-Leak warnt er davor, jetzt nicht in die Falle der Russen zu tappen.
ntv.de: Herr Reisner, auch in der vergangenen Woche haben die Russen kleine Geländegewinne erzielt. Ist das mehr als das übliche Hin und Her, das wir seit fast einem Jahr sehen?
Markus Reisner: Die Russen sind im vergangenen Herbst nach der Rasputiza-Schlammperiode wieder in die Offensive gegangen. Die Auswirkungen dieser, mittlerweile zweiten, Winteroffensive sehen wir jetzt. Die russischen Truppen greifen an mehreren Stellen der Front massiv an. Das erste messbare Ergebnis war die Einnahme der Stadt Awdijiwka. Sie versuchen nun, das Momentum aufrecht zu erhalten.
Warum ist das wichtig?
Es nähert sich die Frühjahrsschlammperiode, die zweite Rasputiza. Und Sie dürfen nicht vergessen, dass Russland im März eine Präsidentschaftswahl hat. Bis dahin soll das Militär Erfolge vorweisen.
Wo greifen die Russen verstärkt an?
Sie haben zurzeit drei Hauptstoßrichtungen. Eine in der Region Charkiw, die zweite in der Region Donezk, der dritte Raum liegt weiter südlich in Saporischschja. Dort greifen die Russen bei Robotyne und bei Orichiw an, wo die Ukrainer im Sommer vorgestoßen waren. Man kann erkennen, dass die Russen all in gehen. Sie versuchen mit aller Vehemenz, Geländegewinne zu erzielen und nehmen dabei ohne Rücksicht auch hohe Verluste in Kauf.
Die Ukraine schaffte es bei ihrer Offensive im Sommer kaum, die massiven Befestigungsanlagen der Russen überhaupt zu erreichen. Wie ist es umgekehrt? Haben die Russen die gleichen Probleme?
Ja, genau das trifft jetzt auch auf die russischen Truppen zu. Auch sie müssen, wie im Sommer die Ukrainer, zunächst ukrainische Minenfelder durchbrechen und sind dabei dem massiven Einsatz von Artillerie und First-Person-View-Drohnen ausgesetzt. Der fatale Unterschied ist nur, dass die Ukrainer viel weniger Munition haben als die Russen sie im Sommer hatten und auch jetzt noch haben. Sie haben also Probleme, die russischen Angreifer auf Distanz zu halten.
Gerade hat der britische Geheimdienst gemeldet, Russland verliere am Tag knapp 1000 Soldaten. Die Ukrainer fügen ihnen also hohe Verluste zu.
Richtig. Aber höhere Verluste sind typisch für eine Offensive. Die Frage ist dabei, ob man solche Verlustraten über einen längeren Zeitraum verkraften kann. Das scheint der Fall zu sein. Der Kreml hat den Vorteil, dass er immer wieder neue Soldaten generieren kann. Man geht davon aus, dass er zurzeit um die 500.000 Mann in der Ukraine hat. Das ist das Zweieinhalbfache von dem, womit Russland vor zwei Jahren einmarschiert ist. Die Russen setzen offenbar alles auf eine Karte, um vor der Schlammperiode und der Wahl im März Erfolge vorweisen zu können.
Selbst wenn man sich auf diese zynische Sicht der Russen einlässt und sagt: Menschenleben sind egal - ist es aus strategischer Sicht klug, so hohe Verluste in Kauf zu nehmen?
Der Punkt ist, dass die Russen unbedingt ein Ergebnis erzielen wollen. Dafür sind sie bereit, kompromisslos Soldaten zu opfern. Sie dürfen dabei nicht die Taktik vergessen: In der ersten Welle schickt Russland schlecht ausgebildete Soldaten vor, die dann ukrainisches Feuer provozieren. So lokalisieren russische Drohnen die ukrainischen Stellungen, die dann mit Artillerie und First-Person-View-Drohnen bekämpft werden. Erst dann kommen die gut ausgebildeten Soldaten zum Einsatz, mit weit geringeren Verlusten.
Das heißt, die erste Welle ist Kanonenfutter.
Genau, das ist das Tragische an dieser Taktik.
Aber funktioniert das?
Das funktioniert, ja. Das Momentum ist auf der russischen Seite. In den Schwergewichtsräumen erzielen sie steten Vormarsch, auch wenn es jeweils nur wenige Kilometer sind.
Warum haben die Russen keinen Munitionsmangel?
Die Russen haben in den vergangenen zwei Jahren die Produktion massiv hochgefahren. Schätzungsweise arbeiten dreieinhalb bis vier Millionen Menschen in der Rüstungsindustrie, in mehreren Schichten. Man nimmt an, dass im vergangenen Jahr zwischen 1,5 und drei Millionen Artilleriegranaten gefertigt worden sind. Hinzu kommen Lieferungen aus Nordkorea, vermutlich zwischen zwei und drei Millionen Granaten. Man darf nicht vergessen: Kriege wie diese werden nicht durch die Moral der Soldaten oder die Qualität einzelner Waffensysteme entschieden, sondern über die Masse an verfügbaren militärischen Ressourcen.
Wie groß ist die Gefahr eines größeren russischen Durchbruchs?
Die Gefahr eines russischen Durchbruchs ist massiv. Im schlimmsten Fall könnte ein Einbruch einen Domino-Effekt zur Folge haben. Dann würde der russische Vormarsch womöglich erst am Dnipro gestoppt, also dem Fluss, der die Ukraine in der Mitte teilt. An manchen Orten wie Popasna, Soledar, Bachmut und nun Awdijiwka haben die Russen bereits die erste, am besten befestigte Verteidigungslinie der Ukrainer überwunden. Die zweite und dritte Linie ist nicht mehr so stark befestigt. Es ist nun die Frage, ob die Ukrainer in der Lage sind, so etwas wie die Surowikin-Linie aufzubauen, mit der die Russen sie im Sommer aufgehalten haben.
Die Ukrainer haben zuletzt mehrere Militärflugzeuge abgeschossen, darunter auch ein Spionageflugzeug vom Typ A50. Es gibt Meldungen aus der Ukraine, dass die Luftaktivitäten der Russen schon abnehmen. Ist das kein Rückschlag für Russland?
Das kann ich so nicht bestätigen. Wenn Sie sich anschauen, was in einschlägigen sozialen Medien an Videos geteilt wird, sehen wir nach wie vor eine hohe Zahl an Gleitbombenabwürfen. Die Russen haben der Front ungefähr 300 Kampfflugzeuge zugeordnet. Da bedeuten die bis zu 14 Kampfflugzeugabschüsse der vergangenen Wochen noch relativ geringe Verluste. Vor allem in Anbetracht der laufenden Offensive.
Für Russland läuft also alles nach Plan?
Aus russischer Sicht läuft es nach Plan. Wenn die Offensive gelingt, haben sie einen herzeigbaren Erfolg vor der Wahl und der Rasputiza.
Sie halten es ja für möglich, dass die Ukrainer bereits westliche Kampfjets vom Typ F16 einsetzen, wie sie vergangene Woche sagten. Haben Sie neue Hinweise darauf gesehen?
Es ist schon interessant, dass es den Ukrainern gelungen sein soll, so viele Flugzeuge in kurzer Zeit abzuschießen. Bisher gingen wir davon aus, dass sie den Russen quasi einen Hinterhalt legen. Dafür ziehen sie westliche Fliegerabwehrsysteme wie zum Beispiel Patriot für kurze Zeit von den Städten an die Front ab. Dort schießen diese dann ein, zwei, drei Maschinen ab und ziehen sich dann wieder zurück. Das ist aber sehr aufwändig und passiert nur so alle zwei, drei Wochen. Dass jetzt so viele Flugzeuge abgeschossen wurden, könnte ein Hinweis darauf sein, dass andere Systeme im Einsatz sind. Das bleibt aber reine Spekulation.
Präsident Macron schließt Bodentruppen in der Ukraine nicht mehr aus. Das ist vor allem eine politische Entscheidung - aber in welchem Fall wäre das militärisch erforderlich und wie nah sind wir diesem Punkt?
Die Ukraine ist nach wie vor in der Lage, Soldaten aufzubringen, die sie an der Front einsetzen kann. Nehmen wir an, dass die ukrainischen Streitkräfte ungefähr 880.000 Mann umfassen, von denen rund 400.000 an der Front kämpfen. Diese Soldaten brauchen vor allem Munition jeglicher Art. An den Reaktionen auf die Aussagen von Macron haben Sie gesehen, dass es wenig Willen gibt, mehr zu tun als bisher. Mehrere Regierungschefs schlossen den Einsatz eigener Truppen sofort aus.
Sie haben vor unserem Gespräch gesagt, Sie möchten sich nicht näher über das Taurus-Leak bei der Bundeswehr äußern. Aber inwiefern ist das ein Erfolg für Russland in diesem Informationskrieg, in dieser hybriden Kriegsführung?
Das Taurus-Leak war eine sogenannte "Informationsbombe" im laufenden Informationskrieg. Deren Wirkung wird nun von Russland massiv genutzt. Aus ihrer Sicht ist das ein Erfolg. Im Westen sagt man dagegen, dass es eben eine solche Informationsbombe ist und man jetzt nicht in die Falle der Russen tappen sollte.
In welche Falle?
Die Russen wollen Zwietracht und Missgunst streuen. Vor allem wollen sie die Bevölkerungen in Europa erreichen. Wenn sie es schaffen, dass die Menschen sagen, es sei sinnlos, diesen Krieg weiterzuführen, führt das zu Druck auf die Regierungen. Die treffen dann womöglich Entscheidungen zugunsten der Russen. Zum Beispiel, die Ukraine nicht weiter zu unterstützen.
CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter sagt, Europa müsse aufhören, den Krieg aus der Westentasche zu finanzieren. Gehen Sie da mit?
Dem stimme ich zu 100 Prozent zu. Ich habe von Anfang an davor gewarnt, Russland zu unterschätzen. Das Land hat in der Geschichte immer wieder gezeigt, dass er zwar zu Beginn von Kriegen durchaus fatale Fehler macht, aber dann in der Lage ist, sich anzupassen. Europa und die USA haben sich die Dinge schöngeredet. Der Westen wollten nicht wahrhaben, dass wir massive Einschnitte hinnehmen müssen, wenn wir die Ukraine unterstützen wollen. Der Westen hat jetzt die große Katerstimmung, wo man erkennen muss, es geht sich nicht aus. Jetzt ist die Frage, wer als Erstes den Mut hat, sich vor die Bevölkerung zu stellen und das auszusprechen.
Mit Oberst Markus Reisner sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de