
Der Osten als schwieriges Terrain: zerstörtes Grünen-Plakat zur Bundestagswahl 2021 in Leipzig.
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Hätte es Bündnis 90 nicht gegeben, die Grünen wären vielleicht nie Regierungspartei geworden. Dennoch kommt die Partei, 30 Jahre nach der Fusion mit den ostdeutschen Bürgerrechtlern, in den neuen Bundesländern oft wie ein Fremdkörper daher.
Die Jubiläumsfeiern zu 30 Jahren deutscher Einheit sind im Schatten der Corona-Pandemie mal ganz, mal deutlich kleiner ausgefallen. Dabei zeigen die jüngsten Debatten über die abfälligen Bemerkungen des Springer-Konzernchefs Mathias Döpfner wie groß weiterhin der Redebedarf über deutsch-deutsche Verhältnisse ist. Den Grünen gibt nun ein ganz besonderes Jubiläum ihrer Parteiengeschichte Anlass zur Reflexion: Am 14. Mai 1993 vollzogen Bündnis 90 und die Grünen ihre Fusion zu einer gesamtdeutschen Partei. Den Jahrestag begeht die Partei am Samstag in Leipzig.
Neben dem Bundesvorstand nehmen auch die in Potsdam wohnende Annalena Baerbock, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, die aus Dessau stammende Bundesumweltministerin Steffi Lemke und die Thüringerin Katrin Göring-Eckardt teil. Der Veranstaltungsort Leipzig bildet gut ab, wie es um die Grünen im Osten bestellt ist: Im studentisch geprägten Wahlkreis Leipzig II kam die Partei bei der vergangenen Bundestagswahl mit 21,3 Prozent auf die meisten Zweitstimmen, in Leipzig I waren es mit 15,5 Prozent noch knapp mehr als im gesamten Bundesschnitt. In den angrenzenden ländlichen Wahlkreisen Nordsachsen und Leipzig-Land stimmten aber jeweils nur um die 5 Prozent für Bündnis 90/Die Grünen.
Neun Bundestagsabgeordnete aus Flächenländern
In allen sächsischen Flächenwahlkreisen war 2021 die AfD stärkste Kraft geworden. Die Partei also, die sich als Anti-Grüne geriert; die den menschgemachten Klimawandel leugnet und von den Grünen das Bild einer elitären, westlichen "Verbotspartei" zeichnet, der die Belange von Migranten wichtiger seien als die der vermeintlichen "Einheimischen". Die AfD rennt damit offene Türen ein: "Ein im Vergleich zum Westen größerer Teil der ostdeutschen Bevölkerung hat eine Negatividentifikation mit den Grünen, würde diese Partei also niemals wählen", sagt der Leipziger Parteienforscher Hendrik Träger.
Die schwachen Wahlergebnisse im Osten bewirken, dass die Partei auf Bundesebene tatsächlich westdeutscher daher kommt als ihre Wettbewerber: Von den 118 Bundestagsabgeordneten der Grünen sind nur neun aus den Ostländern. Darunter die Bundesministerinnen Baerbock und Lemke sowie Staatssekretär Michael Kellner. Zusammen mit den sieben Berliner Grünen hat sich nach der letzten Wahl erstmals eine Landesgruppe Ost innerhalb der Grünen-Fraktion zusammengefunden, angeführt von den Co-Vorsitzenden Stefan Gelbhaar aus Berlin-Pankow und Paula Piechotta aus Leipzig. Die 36-Jährige sieht die Lage trotz der im Vergleich zum Westen schwierigen Lage optimistisch: "Ja, wir sind auch eine Ostpartei. Wir stehen vor allem für die Städte im Osten, sind aber auch auf dem Land immer präsenter."
Einbahnstraße nach Westen
Dass sich die Frage nach der Ostidentität der Grünen überhaupt stellt, könnte mit Blick auf die Geschichte überraschen. Mit Bündnis 90 waren die Grünen seit den ersten Wende-Tage im Osten vertreten. Die ostdeutschen Bürgerrechtler kandidierten 1990 gemeinsam mit den Grünen zur Bundestagswahl. Doch während die westdeutschen Verbündeten mit einem Wahlkampf, der die Fragen der Wiedervereinigung ignorierte, an der 5-Prozent-Hürde scheiterten, gewann Bündnis 90 acht Bundestagsmandate. So sehr die eher bürgerlichen Ostdeutschen mit den Inhalten und der Debattenkultur der damaligen Grünen fremdelten: Sie retteten mit ihrem Einzug in den Bundestag die bundespolitische Relevanz der mit tiefen Personal- und Richtungsstreits befassten West-Grünen.
Die vollzogen daraufhin ihre "realpolitische Wende", verabschiedeten sich von den Fundamentaloppositionellen in den eigenen Reihen und machten sich auf den Weg zur Regierungsbeteiligung. 1993 erfolgte die Vereinigung beider Bewegungen, wobei der den Grünen vorangestellte Name von Bündnis 90 unterstreichen sollte, dass die nach Mitgliedern 15 Mal größere Westpartei nicht einfach die Brüder und Schwestern im Osten schluckt. Zugleich stärkten die Ostler, die so ganz anders sozialisiert waren als die Alt-68er, den sogenannten Realo-Flügel.
Die Partei wurde in dieser Zeit mehr vom Osten geprägt als andersherum. Die Erfolge der Wende, insbesondere auch die drastische Verbesserung der Luft- und Wasserqualität, brachte kaum ein Ostdeutscher mit den Grünen in Verbindung. "Diese Erfolge wurden als Abwicklung der DDR verbucht und nicht mit den Grünen in Verbindung gebracht, die damals selten an den Landesregierungen im Osten und bis 1998 nicht an der Bundesregierung beteiligt waren", sagt Politikwissenschaftler Träger.
Dauerärger: Auto
Etwas anderes sei dagegen sehr wohl hängen geblieben, sagt der Leipziger: die 1998 auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Magdeburg erhobene Forderung, den Benzinpreis auf 5 Mark pro Liter anzuheben. "In einer Phase, als die Arbeitslosigkeit im Osten sehr hoch war und diejenigen mit Arbeit oft sehr weit mit dem Auto pendeln mussten, ist das vielen Menschen aufgestoßen und hängt den Grünen bis heute nach." Der Konflikt ums Auto hält an: "Wenn gesagt wird, man solle auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen oder andere Verkehrsmittel als das eigene Auto wählen, geht das an der Lebensrealität vieler Menschen auf dem Land vorbei", sagt Träger. "Dann haben die Bürgerinnen und Bürger das Gefühl, die Grünen seien eine Großstadtpartei, die für ein urbanes Milieu spricht, das wenig mitbekommt von dem, was auf dem Land geschieht."
Und die Zahl der Stadtbewohner im Osten ist vergleichsweise klein. Nur in der Universitätsstadt Greifswald stellen die Grünen den Bürgermeister. In den Landkreisen redet kaum ein Grüner mit, auch weil die Wählerstruktur denkbar für die Grünen ungünstig ist: der ländliche Osten ist geprägt von einem der höchsten Männerüberschüsse und einer der ältesten Bevölkerungen Europas. Zugleich fällt die Erzählung von der der "Verbotspartei" auf einen historisch bedingt fruchtbaren Boden.
"Menschen, die die DDR noch erlebt haben, reagieren oft sensibler, wenn der Staat den Menschen vermeintlich vorschreiben will, was sie sagen und tun dürfen und was nicht. Auch wenn das von den Verhältnissen in der DDR weit entfernt ist, kann das eine persönliche Wahrnehmung dieser Menschen sein", sagt Träger. Die Grünen waren im Osten auch zu schwach aufgestellt, um vor Ort widersprechen zu können und andersherum die Stimmung im Osten in der Partei spiegeln zu können. Im "Spiegel" räumte die frühere Fraktionsvorsitzende Göring-Eckardt ein, ihre Partei hätte in der Vergangenheit als ganzes präsenter im Osten sein müssen. "Wir haben zugelassen, dass man uns als westdeutsche Partei wahrnimmt."
"Im Osten geht Demokratie zuerst baden"
Doch so spiegelt sich auch ein strukturelles Problem der demokratischen Unterrepräsentation des Ostens: "Ostdeutschland hat auf Parteitagen bei keiner Partei eine Mehrheit, auch wenn die Grünen grundsätzlich sensibler sind für die eigenen Minderheiten als ich es in anderen Parteien wahrnehme.", sagt Piechotta. Und weil die Ostdeutschen in den Bundesparteien immer eine kleine Gruppe darstellen, es in den neuen Bundesländern vergleichsweise wenige Bundestagsmandate zu holen gibt, war er nie wirklich wichtig. Eine Repräsentationslücke, die zunächst die PDS ausfüllte und nach deren Vereinigung mit der WASG zur Linken schließlich die AfD, welche sich in ostdeutschen Landtagswahlkämpfen erfolgreich als Stimme des Ostens inszeniert.
Gerade wegen des absehbaren Erfolgs der AfD bei den kommenden Landtagswahlen hält es Piechotta aber für dringend geboten, dass sich die demokratischen Parteien mit ganzer Kraft im Osten engagieren. "Manche Demokratie-Probleme schlagen im Osten zuerst auf", sagt Piechotta. Wer sagt, dass der Aufwärtstrend der AfD dauerhaft vor dem Westen Halt macht?
Gute Kandidaten und engagierte Wahlkämpfer auf kommunaler Ebene zu finden, sei schwer, sagt Piechotta. Die Wege sind weit, die Erfolgsaussichten vage und der Wahlkampf mitunter gefährlich, wo aggressiv-rechte Stimmung vorherrsche. "Das macht im ländlichen Osten eine Kandidatur für die Grünen nicht attraktiver." Andererseits sei die Mitgliederzahl in den ostdeutschen Landesverbänden zuletzt überproportional gewachsen. Ein Drittel der Neumitglieder im Osten nennt laut Piechotta den Kampf gegen die AfD als Motivation für den Beitritt zu den Grünen.
Tabuthema Kohleausstieg
Ausgerechnet der Auseinandersetzung mit der AfD haben es aber die Grünen auch zu verdanken, dass sich selbst der Kampf um wenige Stimmen im Osten für sie auszahlen kann: "Wenn wir in einen Landtag gewählt werden, sind wir fast automatisch in der Regierung", sagt Piechotta mit Blick auf die schwierig gewordenen Mehrheitsverhältnisse im Osten. Vor den Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen im kommenden Jahr liegt die Partei in Umfragen meist im höheren einstelligen Bereich. Die politische Großwetterlage ist aber ungünstig: Das geplante Verbot für den Neueinbau fossiler Heizungen stößt im Osten auf mehr als 90 Prozent Ablehnung.
Hinzukommt der Kohleausstieg, den die Grünen auch in der Lausitz auf 2030 vorziehen wollen. Doch während am Gebäudeenergiegesetz kein Weg mehr vorbei führt, will die Partei zumindest den vorgezogenen Kohleausstieg im kommenden Jahr seitens der Grünen nicht lautstark auf die Agenda setzen. Das mühsame Wachstum der vergangenen Jahre, die Erfolge der späten Aufholjagd, sollen nicht vollends auf Spiel gesetzt werden. Spätestens 2025, wenn die Grünen erneut Anlauf aufs Kanzleramt nehmen, zählt jede einzelne Stimme - auch die aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Quelle: ntv.de