Trumps erneuerte Monroe-Doktrin"Die USA sind zu spät dran"

Die Vereinigten Staaten vollführen einen Salto rückwärts in die Geschichte und setzen offiziell auf eine Trump'sche Version der Monroe-Doktrin. Die USA wollen demnach die Länder in den Amerikas auf Linie bringen und China verdrängen. "Das wird nicht funktionieren", sagt Jorge Heine, Ex-Minister in Chile und Ex-Botschafter in China. Die USA böten nichts an.
ntv.de: Herr Heine, während der Jahrzehnte des Kalten Krieges griffen die Vereinigten Staaten auf die eine oder andere Weise in Lateinamerika ein, um zu verhindern, dass der Kommunismus in der Region Wurzeln schlägt. Bringen Sie uns auf Stand: Was ist seit dem Ende des Kalten Krieges passiert?
Jorge Heine: Nach dem Kalten Krieg begann Lateinamerika den Übergang zur Demokratie. In den späten 1980er und 1990er Jahren gab es zudem den sogenannten Washingtoner Konsens, basierend auf der Vorstellung von Öffnung, Deregulierung und Privatisierung. Das wurde auch mit TINA bezeichnet: there is no alternative, keine Alternative zum Neoliberalismus. Das hat allerdings nicht besonders gut funktioniert. Also folgte der Aufstieg der Linken und die sogenannte rosarote Welle, die im Jahr 2000 mit Lula in Brasilien aufkam, Ricardo Lagos kam in Chile an die Macht, die Frente Amplio in Uruguay. Dort und anderswo stellten Regierungen mehr soziale Gerechtigkeit in den Fokus, wollten Armut beseitigen. Es gab in den vergangenen dreißig Jahren in Lateinamerika jedoch immer wieder Schwankungen zwischen rechts und links.
Sie haben kürzlich ein Buch mit dem Titel "The Non-Aligned World. Striking Out in an Era of Great Power Competition" veröffentlicht, in dem Sie und Ihre Co-Autoren die Vorteile für die Staaten des Südens beschreiben, sich nicht einfach an eine der sogenannten Großmächte zu halten, sondern blockfrei zu bleiben. In der neuen Nationalen Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten wird jedoch eine neue Version der Monroe-Doktrin ausgerufen, wonach die USA erneut die Dominanz in der Region beanspruchen und Chinas Einfluss zurückgedrängt werden soll. Wie unabhängig können die südlicheren Länder in der Hemisphäre sein?
Die Welt durchlebt gerade eine sehr schwierige Zeit. Wir hatten Pandemien, alle möglichen Naturkatastrophen, Klimawandel, Massenmigration und so weiter. Und im Kern der aktuellen internationalen Unordnung ist der Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten und China. Lateinamerika steckt zwischen Baum und Borke. Die neue Version der Blockfreiheit, die wir beschreiben, ist eine aktive Blockfreiheit, also das richtige Gleichgewicht im Umgang mit beiden Großmächten aktiv zu suchen und zu finden. Die Region wird oft als Einflusssphäre der Vereinigten Staaten beschrieben, aber China hat im Laufe des 21. Jahrhunderts eine bedeutende Präsenz aufgebaut. Für Südamerika ist China der wichtigste Handelspartner. Wir sagen, es wäre ein großer Fehler, sich mit einer der beiden Großmächte zu verbünden. Denn in dem Moment verliert man jeglichen Hebel, jegliches Druckmittel. Man kann nicht mehr verhandeln.
Ist das der Vorteil Ihres Ansatzes?
Das beste Beispiel dafür ist Brasilien. Die USA übten Druck aus, das Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro zu beenden, der wegen eines versuchten Militärputsches im Januar 2023 verurteilt wurde. Brasilien weigerte sich. Infolgedessen wurde es von den Vereinigten Staaten mit 50-Prozent-Zöllen belastet. Brasilien blieb standhaft, die USA senkten die Zölle teilweise wieder, weil der Preis des importierten Kaffees und Rindfleischs bei ihnen stark anstieg, was bei den US-Verbrauchern nicht gut ankam. Der Kontrast zu dem, was die Europäische Union mehr oder weniger gleichzeitig veranstaltete, war ziemlich bemerkenswert. Während Präsident Lula standhaft blieb, reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu Trumps Golfplatz in Schottland, um einem für die EU sehr unvorteilhaften Abkommen mit den USA zuzustimmen.
Das Weiße Haus geht einen eigenen Weg, ignoriert zudem die internationalen Institutionen, welche die Vereinigten Staaten selbst nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben. Nach dem großangelegten Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine nennen das manche auch …
... die zweite Zeitenwende!
Für wie bedeutsam halten Sie diese historische Umorientierung?
Ich halte sie für sehr wichtig. Es ist eine außergewöhnliche Situation, wenn die USA die liberale internationale Ordnung zu Fall bringen wollen, an deren Errichtung sie selbst maßgeblich beteiligt waren, also die Vereinten Nationen, die Bretton-Woods-Institutionen, Handel und Freihandel. 2016 war ein Schlüsseljahr. Im Juni stimmte das Vereinigte Königreich für den Austritt aus der Europäischen Union, und im November desselben Jahres wurde Trump erstmals zum US-Präsidenten gewählt. Die Überzeugung ist offenbar, so hat es US-Außenminister Marco Rubio ausgedrückt: Das internationale System ist nicht einfach ein schlechtes System. Es ist schlecht für die Vereinigten Staaten. Eine sehr fragwürdige These.
Das Weiße Haus beansprucht wie früher geopolitische Dominanz in der westlichen Hemisphäre, also den Amerikas. Trump möchte den Friedensnobelpreis, hat aber eine enorme Streitmacht vor Venezuela platziert, um möglicherweise einen Krieg zu beginnen. Ist das nicht höchst widersprüchlich?
Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA legt die westliche Hemisphäre und Lateinamerika in den Mittelpunkt der US-Außenpolitik. Ex-Präsident Barack Obama hat sich nach Asien orientiert, Ex-Präsident George W. Bush den Krieg gegen den Terrorismus geführt, der sich hauptsächlich auf den Nahen Osten konzentrierte. Die aktuelle Neuordnung der Prioritäten könnte man als gute Sache sehen, denn Lateinamerika steckt in ernsthaften Schwierigkeiten. Es ist die Region der Welt, die am stärksten von der Pandemie betroffen war. Unter den 8 Prozent der Weltbevölkerung, die in Lateinamerika lebt, gab es 28 Prozent der weltweiten Todesfälle. Es gab den größten wirtschaftlichen Abschwung seit 120 Jahren und 2020 eine wirtschaftliche Schrumpfung von 6,6 Prozent. Die erste Trump-Regierung übte Druck aus, alle möglichen Infrastrukturprojekte abzusagen. Lateinamerika befindet sich also in einem schlechten Zustand.
Trotz des Jo-Jo-Effekts danach?
Lateinamerika hat sich von der Krise vor fünf Jahren aber nicht wirklich erholt. Deshalb könnte man denken, dass Washingtons neue Priorität gut wäre, wenn sie der Region helfen würde, wirtschaftlich wieder zu wachsen. Aber die traurige Wahrheit ist: Der Fokus liegt darauf, was die Vereinigten Staaten aus Lateinamerika herausholen können, statt auf der Entwicklung Lateinamerikas selbst. Die US-Sicherheitsstrategie erwähnt Ressourcen, Bodenschätze und Vermögenswerte, Seltene Erden und die Notwendigkeit der Vereinigten Staaten, diese zu sichern. Es wird auch die Notwendigkeit erwähnt, im Grunde alle anderen Bauunternehmen auszuschließen, die an Infrastrukturprojekten in Lateinamerika arbeiten, nicht nur solche aus China, auch französische, spanische und andere Firmen. Es konzentriert sich völlig auf die Bedürfnisse und Prioritäten der Vereinigten Staaten. Das kommt in der Region nicht gut an.
Die USA bedrohen Venezuela, üben diplomatischen Druck auf Brasilien aus, stützen in Argentinien mit Milliarden Dollar den vor der Kongresswahl wackelnden Präsidenten Javier Milei. Heißt das zusammengenommen: Verbündet euch mit uns, oder es könnte etwas Schlimmes passieren?
Ja, so könnte man das sagen. Aber die USA sind zu spät dran. Bei einer Reihe zentralamerikanischer Länder war Washington damit erfolgreich, auch mit Ecuador oder mit Argentinien. Doch China handelt mit Lateinamerika im Wert von 518 Milliarden Dollar, allein mit Brasilien sind es 165 Milliarden Dollar, mit Chile 60 Milliarden Dollar. Die Vorstellung, sie würden das verringern, ist völlig fehlgeleitet. Soll Brasilien seinen Landwirten sagen, sie sollen keine Sojabohnen pflanzen? Das wird nicht funktionieren. Der Agrarsektor ist darauf ausgerichtet, an China zu verkaufen. Aber die USA befinden sich im Soja- und Rindfleischsektor im Wettbewerb mit Brasilien und Argentinien. Als China mit Zöllen der USA belegt wurde, kaufte es eben aus Südamerika.
Der Fokus der Nationalen Sicherheitsstrategie ist auch, Migrationsbewegungen nach Norden zu reduzieren sowie Drogenschmuggel zu verhindern. Das geschieht normalerweise mit Investitionen, welche die Lebensbedingungen der Menschen verbessern sollen. China finanziert mit seiner Neuen Seidenstraße auch in Lateinamerika Infrastruktur. In Peru etwa wurde zuletzt der riesige Hochseehafen Chancay eröffnet. Überschätzt die US-Regierung die Möglichkeiten und den Willen seiner Unternehmen, in Lateinamerika zu investieren?
China ist in der Region präsent wegen seines Wirtschaftswachstums. Das Land ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt und steuert etwa 19 Prozent der Weltwirtschaftsleistung bei. Die USA etwa 25 Prozent. In China gibt es zudem eine sehr hohe Sparquote, 40 Prozent; dieses Geld will in andere Länder. In China lohnt es sich nicht mehr so sehr, weil bereits so viel investiert wurde. Die Vereinigten Staaten und Europa bremsen Investitionen aus China, also gehen Investoren nach Lateinamerika, nach Afrika und nach Asien. Zugleich haben sich die USA im Handels- und Investitionsbereich im Grunde aus Südamerika zurückgezogen, und für China die Tür offengelassen.
Wie drückt sich das aus?
In diesem Jahr gab es zwei außergewöhnliche Beispiele. In Brasilien hat der chinesische Fahrzeughersteller BYD eine Elektroautofabrik im Bundesstaat Bahia in einem ehemaligen Industriepark eröffnet. Der stammt noch von Ford, aber das US-Unternehmen hatte ihn zurückgelassen. Und Great Wall Motor hat im Bundesstaat São Paulo die Räumlichkeiten einer ehemaligen Mercedes-Benz-Fabrik bezogen. China übernimmt Bereiche, welche die Vereinigten Staaten und europäische Unternehmen zurückgelassen haben.
Kommt das EU-Mercosur-Freihandelsabkommen also zu spät? Wir steuern auf fast drei Jahrzehnte an Verhandlungen zu.
In diesem Fall würde ich sagen: Es ist nie zu spät. Aber ja, sowohl Europa als auch die Vereinigten Staaten drängen die lateinamerikanischen Regierungen ständig und sagen, sie sollten mehr mit uns und nicht mit China zu tun haben. Die Taten sprechen eine andere Sprache. Da ist einmal der Gipfel der Organisation amerikanischer Staaten, der OAS, der alle drei Jahre stattfindet. Der Hauptzweck ist es, den US-Präsidenten dazu zu bringen, sich mit lateinamerikanischen und karibischen Staats- und Regierungschefs zu treffen. In diesem Jahr wurde der Gipfel zum ersten Mal seit seiner Gründung vor dreißig Jahren verschoben, was im Grunde bedeutet, dass er abgesagt wurde. Die USA hatten Druck ausgeübt, wer eingeladen werden sollte und wer nicht. Und im Fall der Europäischen Union gibt es einen alle drei Jahre stattfindenden EU-Lateinamerika-Gipfel, der im November in Kolumbien stattfand. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war in Brasilien und entschied sich gegen eine Reise. Was sagt das über das Interesse der EU an Lateinamerika? Die USA und Europa waren jahrhundertelang die wichtigsten Partner der Region. Nun ist China hinzugekommen, was seine Beziehungen offensichtlich ernsthafter pflegt.
Herr Heine, Sie waren Minister unter Chiles Ex-Präsident Eduardo Frei und Botschafter in China unter Ex-Präsidentin Michelle Bachelet. Wie wird die Nationale Sicherheitsstrategie der USA in ihrem früheren Berufsumfeld gesehen?
Es gibt einen Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten und China um Herz und Geist lateinamerikanischer Regierungen und Bevölkerungen. Die Vereinigten Staaten haben augenscheinlich viele Vorteile. Sie haben eine größere Wirtschaft, sind Teil der eigenen Hemisphäre, in Wissenschaft und Technologie weiterentwickelt als China. Schneiden sie also besser ab in diesem Wettbewerb? Die Wahrnehmung, die ich habe, und was Kollegen in China und anderswo sagen: Nein. Die Vereinigten Staaten folgen dem Ansatz: nur Peitsche, kein Zuckerbrot. Sie bieten nur wenig an. Schon in Trumps erster Amtszeit war die Grundbotschaft bei offiziellen Besuchen: Wir möchten, dass ihr weniger mit China handelt, und wir möchten, dass ihr dieses spezielle Projekt, diese Brücke nicht baut oder dieses Glasfaserkabel nicht verlegt. Dann fragen lateinamerikanische Regierungen - ich habe das als Minister erlebt: Was bietet ihr stattdessen an? Die Antwort der US-Vertreter war stets: nichts.
Das klingt nicht besonders attraktiv.
Das ist keine erfolgreiche diplomatische Strategie. Es bringt die Länder in Lateinamerika in eine schwierige Lage. Die Vereinigten Staaten bieten keinen guten Zugang zum US-Markt an, keine nennenswerte internationale Zusammenarbeit und unterzeichnen keine Freihandelsabkommen. Die humanitäre Hilfsorganisation USAID wurde eingestellt. China hingegen bietet Zugang zum chinesischen Markt sowie die Neue Seidenstraße. Viele Leute sind der Ansicht, dass das China mittel- und langfristig sehr nützt.
Mit Jorge Heine sprach Roland Peters