Politik

Eine gelbe Linie für die Frauen Die USA stecken im Abtreibungschaos

Das Feminist Women's Health Center in Atlanta im Bundesstaat Georgia wird von Abtreibungsgegnern angefeindet. Die gelbe Linie dürfen sie nicht übertreten.

Das Feminist Women's Health Center in Atlanta im Bundesstaat Georgia wird von Abtreibungsgegnern angefeindet. Die gelbe Linie dürfen sie nicht übertreten.

(Foto: Roland Peters)

Ein halbes Jahrhundert lang gilt in den USA das allgemeine Abtreibungsrecht. Dann kommt US-Präsident Trump und krempelt den Supreme Court auf konservativ. Bei den Midterms erwischt die Republikaner ihr eigener Bumerang. Den Frauen im Land hilft das derzeit wenig.

Früher wollte er mit den Besuchern der Abtreibungsklinik beten. Heute morgen hat er durch sein Mikrofon irgendwann nur noch den Parkplatz hinauf in Richtung Gebäude gebrüllt. Er behauptet, er tue dies im Auftrag Gottes. Er, das ist Jason Cantrell, professioneller Abtreibungsgegner. Dreimal pro Woche, immer wenn Patientinnen kommen, sind auch der selbsternannte Prediger und dessen Anhänger da. Manchen Frauen, die im Nordwesten von Atlanta ins Feminist Women's Health Center wollen, wirft er Mord vor oder wünscht sie zur Hölle.

Aber ab und zu säuselt er auch durchs Mikrofon. "Sie müssen es nicht tun, Ma'am", ruft er in einem Video auf seiner Website einer Frau in Richtung Eingang hinterher, "Sie können hier herunterkommen und reden, wir helfen ihnen mit allem, was sie brauchen". Wer sich überzeugen lässt, wird belohnt, bekommt ein blessing bag, einen "gesegneten Beutel" mit Baby-Utensilien: einen Strampler mit "Gott liebt mich"-Aufdruck, eine Windel, ein paar Bibelverse. Jason Cantrell nennt Kliniken wie das Feminist Center "Abtreibungsfabriken" der "blutigen Stadt". Bereits seit Jahren lebt er vor allem von den Spenden, die ihm seine Anhänger und Sympathisanten überlassen.

Ein unscheinbares Schild weist den Weg.

Ein unscheinbares Schild weist den Weg.

(Foto: Roland Peters)

Dies erzählt June Talita, die in der gemeinnützigen Klinik arbeitet und den Prediger seit mehreren Jahren kennt. Fast täglich führen sie und ihre Kolleginnen hier ihren Kampf für Frauenrechte. "Seit Februar 2020 ist er völlig durchgedreht, es ist unmöglich, mit ihm zu reden", sagt sie an diesem Samstag. June heißt eigentlich anders, will aber wegen der fanatischen Abtreibungsgegner ihren richtigen Namen nicht veröffentlicht sehen. "Das ist der Feind", sagt sie eindringlich. "Er ist unberechenbar." Um sich zu wappnen, studiert sie die Demonstranten in allen Details. Jason Cantrell ist ohnehin kein Unbekannter. Vor 25 Jahren brannte er mit Komplizen eine Kirche nieder, in die Schwarze gingen. Er musste dafür zehn Jahre ins Gefängnis. Als Prediger kam er wieder heraus. Nicht immer reichen ihm Worte.

Hunderttausende auf der Suche

Ein halbes Jahrhundert lang galt in den USA das allgemeine Recht auf Abtreibung. Um das große Ziel der Konservativen, es abzuschaffen, formte sich über die Jahrzehnte ein wahrer Makrokosmos, der Abermillionen Dollar umsetzt. Ihr Heilsbringer war Donald Trump, weil er sich mit der religiösen Rechten verbündete, Präsident wurde, und seine Versprechen einlöste. Er ernannte Oberste Richter, die ideologisch auf Linie sind, auf Lebenszeit. Die kippten im Juli das Präzedenzurteil Roe vs. Wade. Die Bundesstaaten können nun selbst entscheiden. Es herrscht legales Chaos, aber eines wird bei einem Blick auf eine Übersicht sofort deutlich: Insbesondere im Bible Belt des Südens, wo Kirchen einen enormen Einfluss haben, sind die Regelungen rigoros.

Für das Jahr 2020, das sind die neuesten verfügbaren Zahlen, hatte das Guttmacher Institut rund 930.000 legale Abtreibungen im Land registriert. Womöglich müssen hunderttausende Frauen jährlich sehen, wo sie bleiben. Besser gesagt: wohin sie fahren. Je nach Wohnort müssen Frauen über tausende Kilometer anreisen. Falls sie es sich leisten können. Abtreibungsverbote treffen insbesondere einkommensschwache Bevölkerungsschichten. Dort ist der Anteil nicht-weißer Frauen höher. Atlanta wächst seit vielen Jahren, viele Vorstädte sind von Schwarzen geprägt.

Als klar wurde, dass der Supreme Court das allgemeine Abtreibungsrecht kippen würde, wurde das Feminist Center von Frauen aus dem ganzen Land regelrecht überrannt. Im Akkord führten die Ärztinnen bis zu 70 Abbrüche täglich durch. Doch auch in Georgia galt monatelang eine strenge Grenze von maximal sechs Wochen. Da wissen viele Frauen noch nicht einmal, dass sie schwanger sind. Bis zu 30 Patientinnen ließen sich pro Behandlungstag operativ oder mit Pillen behandeln, für maximal 575 Dollar, je nach Einkommen auch weniger. Anfang der Woche setzte ein Richter das Verbot dann aus: Das Gesetz sei 2019 verabschiedet worden, als das Recht noch galt, und deshalb verfassungswidrig. Das Feminist Center hatte gemeinsam mit anderen Organisationen geklagt. Georgias Regierung hat bereits ihre Berufung eingereicht.

Die Grenzen waren monatelang knallhart: Stellte die Klinik bei der Voruntersuchung einen Herzschlag fest, mussten die Ärztinnen die Frauen laut Gesetz wieder wegschicken. Sie konnten dann ihr Glück in einem anderen Bundesstaat versuchen, etwa im benachbarten South Carolina, wo die Regelung weniger strikt war. Für Frauen aus Tennessee, Alabama und Mississippi etwa, wo die Regelungen noch strenger sind, war Georgia der nächste Bundesstaat, wo zumindest eine Schwangerschaft nach Vergewaltigung, Inzest oder Lebensgefahr der Mutter später abgebrochen werden durfte.

Schlüsselthema der Wahlen

Im Juli hatten die Konservativen über ihren historischen, von langer Hand geplanten Erfolg ausgiebig gejubelt. Bei den Zwischenwahlen vergangene Woche erwies er sich als Bumerang. Die Wahlen für den Kongress und viele Ämter auf Bundesstaatsebene gerieten zum Stimmungstest über die Zukunft der Frauenrechte.

Nach den 31 Prozent der Wähler, die Inflation und Wirtschaft als wahlentscheidend sahen, nannten 27 Prozent Abtreibungen; das Thema elektrisierte die Wählerschaft und trieb sie für die Demokraten an die Urnen. Landesweit machten 72 Prozent der Frauen zwischen 18 und 29 Jahren ihr Kreuz bei den Demokraten. Drei von vier Personen, die in Nachwahlbefragungen Abtreibung als wichtigstes Thema nannten, machten ihr Kreuz bei einem Kandidaten der Regierungspartei. In fünf Bundesstaaten gab es Abstimmungen zum Abtreibungsrecht. In allen gewannen die Befürworter, sogar in den tief konservativen Bundesstaaten Kentucky und Montana.

Kein US-Präsident der Demokraten in den vergangenen Jahrzehnten konnte ein solches Ergebnis bei Zwischenwahlen erzielen wie Joe Biden, trotz dessen Unbeliebtheit bei den Wählern. Er hielt die hauchdünne Senatsmehrheit und könnte sie wegen Georgia sogar leicht ausbauen, sollte Pastor Raphael Warnock seinen Senatssitz in der Stichwahl am 6. Dezember gewinnen. Warnock ist für ein landesweites, gesetzliches Abtreibungsrecht. Sein republikanischer Konkurrent Herschel Walker spricht sich für ein noch strengeres Verbot aus.

"Sie dachten, wir wären so dumm"

In der historischen Innenstadt von Atlanta, eine Viertelstunde Autofahrt von der Klinik entfernt, ist der Himmel grau. Regenschauer plagen die rund hundert Wartenden um ein Rednerpult. Unter der Turmspitze der nahen Steinkirche proklamieren große Letter "Jesus Saves". Nach Minuten fährt ein schwarzer SUV mit getönten Scheiben vor, Pastor Warnock steigt aus, stellt sich unter das stilisierte Wandporträt des schwarzen Bürgerrechtlers John Lewis und hört sich lächelnd die kurzen Lobpreisungen seiner beiden Vorredner an.

Dann gibt der Senator die Losung für die nächsten Wochen aus: "Diese Wahl ist kein politischer Prozess, es geht um Kompetenz und Charakter." Warnock wird dieses Wortpaar mehrfach wiederholen, beides spricht er seinem Konkurrenten ab. Walker ist in Georgia vor allem bekannt als Ex-Football-Star, der von Donald Trump unterstützt wird. Seiner Ex-Frau drohte er mehrfach mit dem Tod, zwei andere Frauen werfen ihm vor, sie zu Schwangerschaftsabbrüchen getrieben zu haben. Der frühere Sportler litt in der Vergangenheit zudem an einer dissoziativen Identitätsstörung. Warnock spricht etwa 15 Minuten, es wird eine Motivationsrede für seine Anhänger und sich selbst. "Seid ihr bereit zu kämpfen?", fragt er, und erntet ein kollektives Ja.

Das Zentrum von Atlanta ist eine von Autobahnen durchzogene Betonwüste aus Hotels und Bürogebäuden und wichtiges überregionales Geschäftszentrum. Zugleich ist die Bedeutung der Stadt für das Selbstverständnis schwarzer US-Amerikaner enorm. Im benachbarten historischen Teil formte sich die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre mit. In der Ebenezer Kirche predigte Martin Luther King, seine Statue steht vor dem Staatskapitol, dem gegenüber liegt der "Freiheitspark". Seit 2005 ist Warnock der Pastor der Kirche. Man kann seine Predigten sogar online verfolgen. Zuweilen vermischen sich seine Rollen, er spricht vom Pult politisch und erwähnt als Politiker die Bibel.

Erstmals überhaupt treten in Georgia zwei Schwarze zur Senatswahl gegeneinander an. Von der Bevölkerung des Bundesstaats bezeichnen sich 33 Prozent als schwarz. Mit der Tradition ihrer religiösen Anführer, sich bei Wahlen neutral zu verhalten, brach vor ein paar Wochen der einflussreiche Prediger Jamal Bryant. Er beschrieb Walker bei einer Predigt als Marionette der Weißen. "Seit er 16 Jahre alt ist, macht er, was sie ihm sagen." Da spielte Walker noch Football für die Georgia State University in Atlanta. Die Republikaner versuchten, die Schwarzen zu täuschen, warnte Bryant: "Sie dachten wir wären so dumm, dass wir die schlechteste Karikatur eines stereotypen, gebrochenen schwarzen Mannes wählen würden, statt jemanden, der gebildet, belesen und fokussiert ist." Die Aufnahmen der Predigt gingen viral.

Netzwerke im Untergrund

Sollte Warnock gewinnen, würden die Demokraten mit einer fraktionellen Mehrheit von 51 zu 49 unabhängiger von eigenen Senatoren wie Joe Manchin. Der hatte zuletzt das historische Klimapaket wegen der Kohleindustrie in seinem Bundesstaat West Virginia über Monate im Alleingang blockiert - und damit große Teile der Partei in die Verzweiflung getrieben. Es ist erklärtes Ziel von Biden und den Demokraten, das Abtreibungsrecht gesetzlich landesweit zu garantieren. Die Hürden im Kongress sind hoch. Aber eine sichere Senatsstimme mehr kann nicht schaden.

Schon jetzt wissen sich Abtreibungsbefürworter ohne Unterstützung aus Washington D.C. zu helfen. So gibt es etwa auf einer Website ein landesweites Klinikverzeichnis je nach Schwangerschaftsdauer, woanders eine Übersichtskarte der gesamten Vereinigten Staaten mit allen gesetzlichen Regelungen oder Abtreibungspillenlieferdiensten. Eine Vielzahl an Organisationen bietet Frauen ihre Unterstützung an. Von einem anonymen US-Spender mitfinanziert, hat sich ein Hilfsnetzwerk im Untergrund geknüpft, das unter anderem von Mexiko aus Pillen über die Grenze nach Norden schmuggelt. Einmal in den Vereinigten Staaten, schicken die Frauen die Medizin getarnt an verzweifelte Schwangere weiter, die wegen der strikten Gesetze nicht mehr weiter wissen.

Herschel Walker war von Trump in den präsidentiellen Sportrat berufen worden. Biden setzte ihn wieder ab.

Herschel Walker war von Trump in den präsidentiellen Sportrat berufen worden. Biden setzte ihn wieder ab.

(Foto: AP)

Georgias Gesetz legte fest, dass der Fötus im Mutterleib bereits Persönlichkeitsrechte hatte, sobald der Herzschlag hörbar war, und deshalb nicht abgetrieben werden durfte. Mehrere Bezirke beschlossen, potenzielle Gesetzesverstöße von Privatpersonen polizeilich zu ignorieren und beriefen sich dabei auf die Menschenrechte der Mütter. Die Bürgerrechtsorganisationen hatten bei ihrer Klage auch angeführt, dass durch den Eingriff deren Privatsphäre verletzt werde, die wiederum in Georgias Verfassung festgeschrieben ist. Der Richter ließ die Entscheidung offen, was mehr wiegt.

"Denkt daran, warum ihr hier seid"

Am Wochenende vor dem Gerichtsurteil fährt ein Auto langsam den abschüssigen Parkplatz des Feminist Center hinauf. Eigentlich würden die Sicherheitsleute die ankommende Patientin in Richtung des Eingangs auf der Gebäuderückseite dirigieren. Doch als der Fahrer das Fenster herunterdreht, fleht eine Patientin aus Tennessee auf dem Rücksitz auf Spanisch, man möge sie bitte sofort behandeln. Sie steigt aus, das Taxi fährt weg. Doch June Talita kann nichts für sie tun, außer ihr Kontaktdaten zu geben: "Sie brauchen einen Termin, laut Gesetz müssen Sie mindestens 24 Stunden warten." Mit verzweifeltem Blick läuft die Frau hinunter zur Auffahrt.

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Es ist inzwischen früher Nachmittag, Jason Cantrell kann die Frau nicht in Empfang nehmen. Stattdessen knien auf dem Rasen der anderen Straßenseite zwei Mitglieder der christlichen Organisation "40 Days for Life" und beten mit einer Blume zwischen den Händen. Dies soll bei der Schließung solcher Kliniken helfen, heißt es in der Selbstbeschreibung der Organisation. Um 13:13 Uhr stehen die beiden Männer auf, sammeln das kleine weiße Kreuz vor ihnen ein, genauso wie die Schilder, die in die Wiese gesteckt sind. "We care, we can help", wir kümmern uns, wir können helfen, ist darauf zu lesen. Sei packen alles in ihren Kofferraum und fahren davon.

Schon mehrmals ist es in den vergangenen Jahren zwischen Patienten, Angehörigen und Abtreibungsgegnern zu Handgreiflichkeiten gekommen. Irgendwann hatte June Talito genug. Im Grundbuch sah sie sich genau an, bis wohin sich das Gelände der Klinik erstreckt, kaufte Verkehrskegel sowie gelbe Farbe, mit der sie einen breiten Strich quer über die Einfahrt malte. Abtreibungsgegner dürfen die Linie auf das Privatgelände nicht übertreten. Sie können nur noch in Richtung Klinikgebäude brüllen. Aber dort, sagt June Talito grinsend, gebe es ja den Aufenthaltsraum mit Fernseher. "Ich sage allen: Lasst euch nicht provozieren, denkt daran, warum ihr hier seid. Und dreht das TV laut auf."

Quelle: ntv.de

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