"Anschluss"-Gedenken in Wien Ein Staatsakt als Drahtseilakt
12.03.2018, 18:07 Uhr
Sebastian Kurz und Heinz-Christian Strache beim Gedenken in der Hofburg.
(Foto: AP)
Vor 80 Jahren wurde Österreich von Nazi-Deutschland "heim ins Reich" geholt. Beim Gedenken sitzen die Rechtspopulisten in den vorderen Reihen - und müssen sich einige Spitzen anhören. Am Ende sogar einen unerwünschten Applaus.
Schweigen ist an diesem Tag keine Option. Am 12. März 1938 marschierten deutsche Truppen über die österreichische Grenze, der deutsche Reichskanzler und "Führer" Adolf Hitler fuhr in einem Triumphzug durch sein Geburtsland, das er mit der Annektion "heim ins Reich" holte. 80 Jahre danach erinnert das offizielle Österreich in einem Staatsakt an den sogenannten Anschluss.
Im Zeremoniensaal der Wiener Hofburg, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, spricht an diesem wichtigen Gedenktag natürlich auch der Bundeskanzler der Republik, und er wählt deutliche Worte: Die Österreicher seien nicht die Opfer gewesen, als die sie sich nach dem Krieg lange Jahre begriffen hatten, sagt Sebastian Kurz. Viele Österreicher waren auch Täter. Aus dieser Geschichte, in der Österreich - mit Ausnahmen wie dem Widerstand, den Kurz als "glühendes Vorbild" adelt - keine rühmliche Rolle gespielt hat, müsse das Land lernen: "Wir dürfen nicht beim Gedenken stehen bleiben."
Was dieses Bekenntnis genau bedeutet für das Österreich des Jahres 2018, darüber streitet das Land seit Monaten, seit klar wurde, dass Sebastian Kurz eine Koalition mit der FPÖ eingehen will. Die Partei gründete sich als Nachfolgerin des "Verbands der Unabhängigen", einer Sammelgruppierung ehemaliger Nationalsozialisten. Vom braunen Erbe versuchen sich die Parteioberen immer wieder loszusagen, immer wieder machen ihnen Skandale einen Strich durch die Abschlussrechnung. Im Januar fielen den Medien Liederbücher der Burschenschaft "Germania" in die Hand mit Texten, in denen die Wehrmacht verherrlicht und Juden aufs Übelste beleidigt werden. Ein Mitglied dieser Burschenschaft: der FPÖ Spitzenkandidat für die Landtagswahlen in Niederösterreich, Udo Landbauer.
Vizekanzler Heinz-Christian Strache distanzierte sich sofort und deutlich, Landbauer zog sich aus der Politik zurück. Die Irritationen bleiben: Wie hält es die FPÖ mit den Ewiggestrigen in der Partei? Wie weit reicht der "Narrensaum", von dem FPÖ-Granden gern sprechen,wenn wieder ein neuer Einzelfall auftaucht? Und wie lange will Sebastian Kurz, den seine Kritiker schon den "Schweigekanzler" getauft haben, sich das noch anschauen? Auch wenn es an diesem Tag um das historische Gedenken geht: All diese Fragen schwingen mit.
In der Hofburg sitzen FPÖ-Politiker als Regierungsvertreter mit in den vorderen Reihen - und gleichzeitig auf der Anklagebank. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hält sich an die feierliche Zurückhaltung und sendet nur einige leise, aber unüberhörbare Spitzen gegen die FPÖ und auch Bundeskanzler Kurz. Zwischentöne, die Abschlussredner André Heller nicht anklingen lässt - er wählt ein Crescendo, das noch lange in den Ohren klingelt.
"Jeder Antisemitismus gehört bekämpft"
Schon seit dem Morgen stehen die Vertreter der FPÖ unter besonderer Beobachtung. Während Kurz unbehelligt zu seinem Platz schlendern darf, gibt Vizekanzler Heinz-Christian Strache vor der Eingangstür zum Saal ein Interview. Als der Staatakt beginnt, richtet sich eine Kamera ständig auf die Reihen der FPÖ, als warte sie nur auf eine verräterische Geste der Rechten. Natürlich haben die Politprofis in der Parteispitze ihre Linie zu diesem Kapitel österreichischer Geschichte schon lange gefunden: "Die Erinnerung an die entsetzlichen Verbrechen der NS-Zeit muss uns ständige Verpflichtung und Mahnung sein, Derartiges nie wieder zuzulassen", lässt Strache über eine Pressemitteilung verbreiten. Wie andere rechte Parteien in Europa hat die FPÖ den Antisemitismus offiziell abgestreift und bekämpft die Judenfeindlichkeit - vor allem, wenn sie von Muslimen kommt.
Kanzler Kurz dagegen sagt in seiner Rede, es sei für ihn "unglaublich, dass es noch immer Antisemitismus gibt". Jeder Antisemitismus gehöre bekämpft, "egal, ob lange schon vorhanden oder frisch importiert".
Was Kurz nicht erwähnt: Die israelitische Kultusgemeinde in Österreich nimmt der FPÖ ihren neu entdeckten Philosemitismus nicht ab. Sie boykottiert Gedenkveranstaltungen, an denen auch Vertreter der Rechten teilnehmen. Die Regierung reagiert mit einer Charmeoffensive: Kurz kündigte in seiner Rede den Bau eines Denkmals für die ermordeten österreichischen Juden und Jüdinnen an. Den Antisemitismus in der FPÖ, der in der Liederbücher-Affäre wieder an die Oberfläche schwappte, überlässt er aber ganz seinem Koalitionspartner. Zwar schweigt er nicht, wie seine Kritiker ihm vorwerfen. Er sagt allerdings nicht mehr als absolut notwendig: Die "widerwärtigen" Texte hätten im modernen Österreich nichts zu suchen, die Verantwortlichen müssten die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen. Den Rest soll die FPÖ unter sich klären. Die Freiheitlichen haben eine Historikerkommission angekündigt, die sich der Vergangenheit der Partei widmen soll - nicht aber der Vergangenheit der Burschenschaften, dem Personalreservoir der FPÖ. Absurd, urteilt der Historiker Oliver Rathkolb im Interview mit n-tv.de. Von der Historikerkommission ist seit der Ankündigung nichts mehr zu hören.
Ein unwillkommener Applaus
Wahrscheinlich spielt Bundespräsident Alexander Van der Bellen auch darauf an, als er sagt, die richtige Zeit zur Aufarbeitung sei gestern gewesen, sei heute wieder, und werde morgen sein. In seiner typisch grummligen Nonchalance gibt er auch dem Bundeskanzler einen sanften Seitenhieb mit: "Einige sagen ja, wir brauchen die Aufarbeitung gar nicht mehr, weil sie da noch gar nicht geboren wurden." Eine Ausflucht, die auch Kurz schon benutzt hat, als er auf die Vergangenheit von Heinz-Christian Strache in der Neonazi-Szene angesprochen wurde.
Immer wieder blitzen beim Gedenkakt aktuelle Debatten auf, auch in kurzen Interviews, die zwischen den Reden auf der Leinwand gezeigt werden. "Ich glaube, dass auch eine Demokratie sich schnell verändern kann", sagt der erfolgreiche Segler Thomas Zajac in einem dieser Einspieler, "das sieht man in den Ländern um uns herum." Natürlich denken da viele an Ungarn, und einige vielleicht an Strache, der im Januar beim Frühjahrsempfang seiner Partei sagte: "Wenn wir die absolute Mehrheit hätten, dann könnten wir es wie der Orbán machen." Die Malerin Xenia Hausner warnt vor den Gefahren einer mediengetriebenen direkten Demokratie, die die Freiheitlichen so gern ausbauen würden - wenn das Volk sich nicht gerade gegen FPÖ-Prestigeobjekte ausspricht, wie beim Rauchverbot.
Die Abschlussrede bleibt keinem Politiker vorbehalten, sondern André Heller, einer der bekanntesten Künstler der Republik und Spross einer jüdischen Familie. Der 70-Jährige erzählt, wie sein Vater wenige Stunden nach dem Anschluss von NS-Schergen in "Schutzhaft" genommen wird. Wer Widerstand leistete in dieser Zeit, sagt Heller, musste mit schlimmen Folgen rechnen. "Aber heutzutage gibt es keine akzeptable Entschuldigung, sich Rassismus und Intoleranz nicht entgegenzustellen." Jeder müsse kämpfen für Errungenschaften wie die Pressefreiheit, die für alle gelte, vor allem für den ORF, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk also, den die Freiheitlichen von der Regierungsbank noch immer so hart attackieren wie in der Opposition. Eine Abrechnung mit den Rechtspopulisten, die dort in den vorderen Reihen in Rufweite Hellers sitzen, aber ruhig zuhören müssen. "Das America first oder Austria first, das führt nur in die Katastrophe", ruft Heller in den Saal hinein.
"Im Hinblick auf den Charakter der Gedenkveranstaltung wird ersucht, nach den einzelnen Beiträgen von Applaus abzusehen", steht auf einem Zettel, den jeder Gast des Staatsaktes auf seinem Stuhl fand. Das Publikum sieht nach Hellers Rede davon ab, dem Ersuchen Folge zu leisten. Der Saal applaudiert.
Quelle: ntv.de