Politik

Rednerin bei Holocaust-Gedenken Eine Sklavin, die Krach machte

Anita Lasker mit ihrem Cello in Berlin 1938.

Anita Lasker mit ihrem Cello in Berlin 1938.

(Foto: privat/Weidle Verlag)

Der Bundestag gedenkt heute der Opfer des Nationalsozialismus. Im Plenum spricht die 92-jährige Anita Lasker-Wallfisch. Ihre Geschichte ist bemerkenswert: Als junge Frau überlebte sie Auschwitz - dank ihres Cellospiels.

Hinweis

Dieses Porträt über Anita Lasker-Wallfisch erschien bereits vor wenigen Tagen bei n-tv.de. Anlässlich der Gedenkveranstaltung im Bundestag haben wir uns dafür entschieden, es Ihnen erneut zu präsentieren.

Warum sie überhaupt davon anfing, weiß sie heute auch nicht mehr. Schließlich war es kein Ort dafür. Dennoch, als sie splitterfasernackt dastand, die Haare abgeschoren, an ihrem Arm brannte die frisch eintätowierte Nummer, erzählte die 17-jährige Jüdin Anita Lasker von ihrem Cellospiel - und überlebte so Auschwitz.

Anita Lakser-Wallfisch bei einem TV-Auftritt im Jahr 2012.

Anita Lakser-Wallfisch bei einem TV-Auftritt im Jahr 2012.

(Foto: imago stock&people)

In dem Konzentrations- und Vernichtungslager, in dem die Deutschen rund 1,1 Millionen Menschen ermordeten, leisteten sie sich zugleich einen absurden Luxus: ein Frauenorchester, geleitet von Alma Rosé, einer Nichte des Komponisten Gustav Mahler. Während in die Gaskammern Zyklon B strömte, die Schornsteine der Krematorien ununterbrochen rauchten, standen die Musikerinnen am Tor von Auschwitz und spielten. Märsche für die Kommandos, die im Gleichschritt aus- und wieder einmarschierten. Frühmorgens und abends, sommers wie winters.

An den Sonntagen gab es Konzerte. Im Freien vor den Blöcken, im Revier, wenn den SS-Wächtern nach Kultur zumute war oder der berüchtigte Lagerarzt Josef Mengele die "Träumerei" von Robert Schumann hören wollte. "Wir spielten und spielten und spielten und spielten", erinnerte sich Anita Lasker-Wallfisch später. "Wir waren die Sklaven, die Krach machten."

Im Gegensatz zu den anderen Gefangenen, die entweder sofort oder nach wenigen Monaten ins Gas geschickt wurden, hatten die Musikerinnen eine Art "Lebensversicherung", so Lasker-Wallfisch. "So lange sie einen spielen lassen wollten, waren wir nicht austauschbar." Einmal lag sie mit Flecktyphus im Krankenrevier und war so geschwächt, dass sie nicht mehr aufstehen konnte. Als die SS-Kommission vorbeikam, um zu bestimmen, wer leben durfte und wer ins Gas geschickt wurde, hätte das unter anderen Umständen ihren sicheren Tod bedeutet. Doch dann hörte sie, wie ein SS-Mann sagte: "Das ist die Cellistin." Sie bekam eine Gnadenfrist.

"Wir sind Menschen geblieben"

Anita und Renate Lasker im Jahr 1946.

Anita und Renate Lasker im Jahr 1946.

(Foto: privat/Weidle Verlag)

Und mehr noch: Die Musikerinnen retteten etwas, was durchaus nicht selbstverständlich war - ihre Würde. "Wir sind Menschen geblieben, und für den, der das Lagerleben mitgemacht hat, ist es eine große Sache, seine Würde bewahrt zu haben", erinnert sich Fanny Kornblum, ein anderes Orchestermitglied, später. Die Frauen sorgten füreinander und teilten ihre letzten Bissen. Als Anita einmal Gelbsucht hatte, fischten die Musikerinnen kleine Kartoffelstücke aus ihrer eigenen Suppe und gaben sie ihr. "Trotz aller Unterschiede in Charakter und Herkunft bildeten wir eine zuverlässige Gemeinschaft, die ihr elendes Dasein und die Aussicht auf ein ebenso elendes Ende miteinander teilte, voller Besorgnis um einander, voller Wärme und Freundschaft", schreibt Lasker-Wallfisch später in ihren Erinnerungen.

Wie durch ein Wunder traf Anita in Auschwitz auch ihre ältere Schwester Renate wieder. Gemeinsam hatten sich die beiden in den Jahren vor dem KZ durchgeschlagen. Ihre Eltern waren da bereits aus Breslau deportiert, ihre älteste Schwester hatte sich nach England retten können. Die beiden Schwestern arbeiteten für einen Hungerlohn in einer Papierfabrik. Hier fälschten sie heimlich Unterlagen für französische Zwangsarbeiter, damit diese entkommen konnten. Als sie später selbst zu fliehen versuchten, flogen sie auf. Die Gestapo verhaftete sie. Im September 1942 landeten sie im Gefängnis, im Juni 43 wurde ihnen der Prozess gemacht und ihre Schwester in ein Zuchthaus eingewiesen. Später kamen sie beide in getrennten Transporten nach Auschwitz, wo Anita ihre Schwester, die nicht im Orchester war, so gut es ging unterstützte.

"Unser Zuhause war harmonisch": Anita mit ihren Schwestern und ihrer Mutter 1931.

"Unser Zuhause war harmonisch": Anita mit ihren Schwestern und ihrer Mutter 1931.

(Foto: privat/Weidle Verlag)

Im Herbst 1944 war allerdings damit Schluss. Die Front rückte näher, die Lagerleitung löste das Orchester auf und dann geschah das Unerwartete. Statt in die Gaskammern wurden die jüdischen Musikerinnen in ein anderes Lager geschickt. "Niemand von uns hätte je geglaubt, dass wir tatsächlich Auschwitz nicht durch den Schornstein verlassen würden!", so Anita Lasker-Wallfisch.

Anita und Renate kamen ins KZ Bergen-Belsen. Der Unterschied zu Auschwitz lag vor allem in den Mitteln, die allerdings am Ergebnis nichts änderten: "In Auschwitz verwendeten sie die technisch ausgefeilteste Methode, um Menschen umzubringen. In Belsen starb man einfach", so Anita Lasker-Wallfisch.

"Ich war neunzehn Jahre alt und fühlte mich wie neunzig"

In den letzten Wochen - Auschwitz war da schon längst befreit - gab es kein Essen mehr, kein Wasser. Hunger, Entkräftung und Krankheiten rafften Tausende Insassen des überfüllten Lagers hinweg, die Leichen lagen überall. Erst am Nachmittag des 15. April 1945 rollten britische Panzer ins Lager und eine Stimme erschallte: "Sorgt euch nicht. Ihr seid frei." Doch zum Jubeln war Anita und Renate nicht zumute, sie schauten nur stumm auf die Befreier. "Es war schwer zu fassen", so Lasker-Wallfisch später. "Ich war neunzehn Jahre alt und fühlte mich wie neunzig."

Sobald sie konnten, im Frühjahr 1946, emigrierten die Schwestern nach England, wo Anita Lasker-Wallfisch bis heute lebt. Damals schwor sie sich, nie wieder deutschen Boden zu betreten. "Es wäre Hochverrat gewesen. Hochverrat an meinen Eltern und den Millionen ermordeter Menschen." Erst nach 44 Jahren brach sie ihren Eid - und spielte mit dem Londoner English Chamber Orchestra, das sie mitbegründet hatte, unmittelbar in der Nähe von Belsen. Da die jüngeren Deutschen den Holocaust nicht mehr erlebt hatten, fühlte sie sich auch nicht als Verräterin. "Ich verstand schlagartig, dass ich als Augenzeugin und Überlebende des Holocaust und der monumentalen Verbrechen womöglich einen Beitrag leisten könnte."

Große Illusionen macht sie sich allerdings auch heute nicht. Die Trennungslinie zwischen Menschenwürde und Barbarei sei "hauchdünn", so Lasker-Wallfisch. Erst kürzlich saß sie in einem Rosenheimer Restaurant und sprach mit Bekannten und ihrem Enkel Simon über den Rechtsruck in Deutschland, die AfD und den Holocaust. Wie die "Jüdische Allgemeine" berichtet, kam daraufhin aus dem Nebenraum ein erregter Mann auf den Tisch zugestürmt und legte der Gruppe nahe, an diesem Ort nicht über solche Themen zu sprechen. Es sei das erste Mal gewesen, so ihr Enkel, dass jemand so etwas in Deutschland und Österreich zu seiner Großmutter gesagt habe.

Heute wird Lasker-Wallfisch wieder über den Holocaust sprechen, und auch AfD-Anhänger werden ihr zuhören müssen. Anlässlich der Ausschwitz-Befreiung vor 73 Jahren hält sie die Gedenkrede im Bundestag. Ihre Schwester Renate Lasker-Harpprecht ist dabei, ebenso ihr Sohn Raphael Wallfisch. Er spielt dann das Stück "Prayer" aus Ernest Blochs "From Jewish Life". Auf dem Cello.

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Quelle: ntv.de

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