Gute Gewinner, schlechte Gewinner Farage ätzt, Johnson bleibt cool
24.06.2016, 15:15 Uhr
Farage: "Dies ist ein Sieg gegen die Großbanken, gegen die Großunternehmen und gegen das politische Establishment."
(Foto: AP)
Der eine ist schon am frühen Morgen auf allen Kanälen zu sehen und verspottet seine Gegner. Der andere schläft aus. Die Reaktionen der großen Gewinner des Brexit-Votums, Farage und Johnson, könnten kaum unterschiedlicher sein.
Nigel Farage kann es kaum erwarten, vor die Kameras zu springen. Es ist nicht mal acht Uhr, als er im Parlamentsviertel Westminster seine Siegesrede hält. "Sehen Sie sich das an", witzelt der Chef der Anti-EU-Partei Ukip. "Sogar das Wetter hat sich verbessert".
Farage gehört neben dem ehemaligen Bürgermeister von London, Boris Johnson, zu den prominentesten Brexit-Befürwortern. Die Auftritte der beiden nach dem Ja der Briten zum Austritt aus der EU könnten allerdings kaum unterschiedlicher ausfallen.
Er erinnere sich noch gut an eine Frau mit Tränen in den Augen, die seine Hand gedrückt habe, sagt Farage. Die Frau habe geklagt: "Warum kann David Cameron, warum kann die Regierung nicht sehen, was sie meiner Gemeinschaft und der Zukunft unserer Kinder angetan hat?" Farages Antwort: "Sie verstehen es nicht, sie sind zu reich." Sie kapierten nicht, was ihre Politik der Masseneinwanderung angerichtet habe. Farage nutzt die Stunde seines Triumphs vor allem, um seine Gegner weiter zu diskreditieren.
"Dies ist ein Sieg gegen die Großbanken, gegen die Großunternehmen und gegen das politische Establishment", sagt der 52-Jährige. "Die EU scheitert, die EU stirbt."
Auch historische Anspielungen erspart Farage seinen politischen Gegnern nicht. Nachdem er bereits in der Nacht von einem "Sieg, ohne eine Kugel zu verschießen" gesprochen hat - was für alle, die im Wahlkampf die friedensstiftende Wirkung der EU für Europa gepriesen haben, ziemlich zynisch geklungen haben muss - fordert er am Morgen danach einen neuen Feiertag. Der solle "Unabhängigkeitstag" heißen.
Johnson preist Cameron

Johnson gesteht Cameron zu, mit seinem "mitfühlenden Konservatismus" einen neuen Politikstil geschaffen zu haben.
(Foto: imago/i Images)
Während Farage schon lange ätzt, schläft der konservative Johnson noch aus. Das sagte zumindest sein Sprecher auf Anfrage britischer Medien. Vor die Kamera tritt der 52-Jährige erst nach 11 Uhr. Und er schlägt einen vollkommen anderen Ton an.
Für seinen Parteikollegen Premierminister David Cameron findet Johnson auffällig preisende Worte, obwohl dieser in der Brexit-Frage sein Rivale war. Johnson nennt Cameron einen der "außergewöhnlichsten Politiker unserer Zeit". Er bezeichnet ihn als einen "tapferen und prinzipientreuen" Mann. Cameron habe das Vereinigte Königreich zur dynamischsten Wirtschaft Europas gemacht. Er gesteht ihm gar zu, mit seinem "mitfühlenden Konservatismus" einen neuen Politik-Stil geschaffen zu haben.
Johnson vermeidet weitgehend EU-Bashing. Er spricht fast ausschließlich von den Möglichkeiten, die sich Großbritannien seiner Ansicht nach eröffnen, wenn das Königreich nicht mehr Teil dieser Gemeinschaft ist – sei es nun dadurch, dass es die Grenzsicherung wieder selbst in die Hand nehmen könne oder dadurch, dass die neue Eigenständigkeit Populisten und Extremisten den Wind aus den Segeln nehmen würde. Großbritannien könne sich wieder zu einer "außergewöhnlichen Macht des Guten" in der Welt entwickeln - stark, liberal, menschlich.
Farage räumt Wahlversprechen ab
Dass die beiden prominentesten Wortführer der Austrittswilligen sich so unterschiedlich geben, verwundert kaum. Boris Johnson wird nach seinem parteiinternen Triumph als Nachfolger im Amt des Premierministers gehandelt. Nachdem er im Wahlkampf mitunter ausgesprochen populistische Töne angestimmt hat, wird er womöglich sehr bald ernsthaft Politik machen müssen.
Farage wird bei der Abwicklung der Beziehungen zur EU keine Rolle spielen. Und wie ernst er es mit der Politik meint, machte er nur wenige Minuten, nachdem die ersten verlässlichen Ergebnisse des Votums an die Öffentlichkeit drangen, deutlich. Das Versprechen, dass bei einem EU-Austritt 350 Millionen Pfund pro Woche statt nach Brüssel in das britische Gesundheitssystem fließen würden, wollte er am Tag nach der Abstimmung nie gegeben haben.
Die Moderatorin der Sendung "Good Morning Britain" schien vollkommen überrascht, als Farage diese zentrale Behauptung der "Leave"-Kampagne als Fehler bezeichnete. "17 Millionen Menschen haben für den Austritt gestimmt, ich weiß nicht, wie viele aufgrund dieser Kampagne, aber sie war ein großer Teil der Propaganda. Sie sagen jetzt: Das war ein Fehler?", fragt sie. Farage schreibt die Zahl 350 Millionen Pfund der offiziellen "Leave"-Kampagne zu, der er ja nicht angehört habe und fügt hinzu: "Ich habe getan, was ich immer tue: mein eigenes Ding." Zu seinem "eigenen Ding" gehörte allerdings auch, dass er diese Zahl vor dem Wahltag nicht infrage stellte.
Quelle: ntv.de